
„Da wäre die Politik gefordert“
Der Rechtsanwalt Wilfried Embacher wundert sich: Auch nach den Empfehlungen der Kindeswohlkommission hat weder das Justizministerium noch das Innenministerium Schlüsse daraus gezogen. Ein Gespräch über den Fall Tina und die Frage, warum das Kindeswohl weiterhin nicht ausreichend gewürdigt wird. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Sophia Reiterer
Herr Embacher, wie ist der aktuelle Stand im Fall Tina, die im Jänner 2021 mit ihrer Mutter und ihrer kleinen Schwester nach Georgien abgeschoben wurde?
Im Fall Tina ist die Lage schon länger unverändert. Seit Februar dieses Jahres hat sie den Aufenthaltstitel als Schülerin. Die Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs, die danach kamen, haben für Tina aufenthaltsrechtlich keine unmittelbaren Auswirkungen. Da ist es ja nur darum gegangen, dass die Abschiebung im Jänner 2021 rechtswidrig war.
Aktuell hat Tina ein Schüler*innenvisum. Wenn Tina in ein paar Jahren nicht mehr zur Schule geht, was passiert dann?
Im besten Verlauf ist das eine Frage, die sich erst in vier Jahren stellt. Wenn Kinder einen Aufenthaltstitel als Schüler*innen haben und die Schule endet, dann müssen sie eine Zweckänderung beantragen. Normalerweise ist das irgendeine Einbindung in einen Familienverband, weil es auch eher selten ist, dass minderjährige Kinder alleine in Österreich sind. Naheliegend bei Tina wäre eine weitere Ausbildung, sprich als Studierende oder noch mal in einem anderen Typus Schule. Eigentlich ist das keine Frage, die aktuell ist und große Sorgen bereitet. Man muss ja dazu sagen, dass sie in vier Jahren von ihren 18 Lebensjahren 16 Jahre in Österreich verbracht haben wird. Allein schon wegen dieser Bindung wäre ein Bleiberecht zu erteilen, wenn sie auch keinen anderen Zweck erfüllt.
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Derzeit hat kein Ministerium irgendwelche Schlüsse
aus dem Bericht der Kindeswohlkommission gezogen.
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Wie ist die Situation von Tinas Familie, die ja weiterhin nicht nach Österreich zurückkehren konnte?
Aufgrund der beiden Entscheidungen des Bundesverwaltungsgerichts und des Verwaltungsgerichtshofs haben wir uns dazu entschlossen, auch für Tinas Mutter und ihre kleine Schwester zu versuchen, einen Aufenthaltstitel in Österreich zu bekommen. Da bin ich aber mit Äußerungen zurückhaltend, weil ich abwarten will, wie die Verfahren verlaufen. Wir haben uns dazu entschieden, diese beiden Verfahren zunächst möglichst ohne Öffentlichkeit zu führen.
Was bedeuten solche Entscheidungen für die Mitglieder einer Familie?
Was das damals für Tina bedeutet hat, erstmals so lange in Georgien zu sein, Kontakt zu halten mit den Freund*innen in Wien, auf Rückkehr zu hoffen, das ist stärker als das, was es für die Familie bedeutet. Letztlich ist das aber eine individuelle Sache – auch das, was wir gemacht haben. Die Entscheidung, dass Tina alleine versucht, ein Aufenthaltsrecht zu bekommen und das auch geklappt hat, ist nur möglich, wenn das Kind sich das zutraut und wenn alle Beteiligten das Gefühl haben, es kann gut gehen. Tina war damals ja erst 13 oder 14 Jahre alt. Man muss auch immer bedenken, dass das keine freiwilligen Entscheidungen, sondern Zwangsakte von staatlicher Seite sind; etwas, das einen massiven Eingriff in die Familienstrukturen und in das Familienleben darstellt.
Gibt es eine Chance, Entschädigungen für Tina und ihre Familie zu erwirken?
Bei Tina bin ich mir relativ sicher, dass das so sein wird. Hier werden Amtshaftungsansprüche bei rechtswidrigem Behördenhandeln und ein eingetretener Schaden als Grundlagen auf jeden Fall geltend gemacht. Ich bin recht zuversichtlich, dass da eine Entschädigung zu bezahlen ist.
Mittlerweile hat die Kindeswohlkommission ihre Arbeit beendet und konstatiert, dass das Kindeswohl bei der Beurteilung der Fälle zu wenig berücksichtigt wird. Wie erleben Sie das vor Gericht, wenn Sie mit dem Kindeswohl argumentieren? Wird das gehört?
Das Kindeswohl ist immer noch nicht in dem Ausmaß relevant, wie es aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Grundlage sein müsste. Das ist auch einer der Nachteile bei der Entscheidung im Fall Tina. Das Kindeswohl wurde da nicht so ins Zentrum gerückt. In vielen Fällen habe ich den Eindruck, dass das als lästige Pflicht gesehen wird. Die Sinnhaftigkeit ist noch nicht ins Bewusstsein vorgedrungen. Da wird es noch einiger Klärungen bedürfen, damit es eine Rechtsprechung gibt, die eine klare Linie vorgibt.
Was hat sich seit der Einführung der Kindeswohlkommission eigentlich verändert?
Die Kindeswohlkommission ist ja ein Beratungsgremium, das keine gesetzlich vorgesehene Funktion hat. Wenn man es rückblickend einordnet, wird man es als Koalitions-Kompromiss einstufen können. Ich glaube, dass der Bericht, der vorgelegt wurde, eine Arbeitserleichterung sein könnte. Da haben sich ja doch Expert*innen aus verschiedenen Bereichen intensiv mit der Frage beschäftigt und brauchbare Ergebnisse geliefert. Aber ich kann keine Richterin oder das BFA (Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl, Anm.) zwingen, aus dem Kommissionsbericht irgendetwas zu berücksichtigen oder sich an die Empfehlungen zu halten. Da wäre die Politik gefordert. Derzeit hat weder das Justizministerium noch das Innenministerium noch das Familienministerium noch die Jugendstaatssekretärin irgendwelche wahrnehmbaren Schlüsse gezogen, die die Bedeutung dieses Berichts und die Bedeutung der Kindeswohlabwägung betont oder hervorgehoben hätten. Das wundert mich, weil es eine politische Entscheidung war, die Kommission arbeiten zu lassen. Momentan finde ich, dass das Ausmaß dieser Arbeit und die Qualität des Berichtes in einem Missverhältnis zur Relevanz stehen, die der Bericht bisher bekommen hat.
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Ich bin erstaunt über den Umgang des Innenministers mit
dem Entscheid des Verwaltungsgerichtshofes.
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Tina ist wahrscheinlich kein Einzelfall. Haben Sie derzeit mit vergleichbaren Fällen zu tun, bei denen Kinderrechte auch nicht entsprechend berücksichtigt werden?
Ich kann gerne den Fall Husein genauer erklären. Trotz Schulbesuch und trotz der Einbindung in den Tischtennis-Verein, sogar trotz hervorzuhebender sportlicher Erfolge, wurde der 13-Jährige nach Aserbaidschan abgeschoben. In diesem Fall wird ein Aspekt besonders deutlich: Oft wird vorausgesetzt, dass die Kinder aufgrund ihrer Eltern deren Sprache beherrschen und ein Schulwechsel daher kein Problem ist. Bei Tina war das auch ein praktisches Problem, sie hat die Sprache nicht ausreichend beherrscht. Wenn die Alltagskommunikation der Kinder in Österreich komplett auf Deutsch verläuft, dann ist es so, dass sie die Sprache, die sie vielleicht einmal konnten, schnell vergessen. Schuleinstufungen, die überhaupt nicht altersadäquat sind, erfolgen dann im unfreiwilligen Aufenthaltsland, einfach weil die Sprachkenntnisse nicht passen. Das scheint bei Husein auch ein Problem zu sein. In Aserbaidschan kommt er nicht mit. Gleichzeitig versucht er, dem Unterricht in Österreich zu folgen. Man muss wegkommen von der Idee des anpassungsfähigen Alters, dass Kinder bis zwölf Jahre dieses Problem weniger haben. Wenn Kinder von sieben bis elf Jahren hier zur Schule gegangen sind, haben sie das Problem genauso. Diese Umstellung wirft Kinder um Jahre zurück. Allein der Aspekt der Sprachbarrieren müsste klar machen, dass ein Verfahren ab drei, vier Jahren Aufenthalt zu Gunsten der Kinder ausgehen müsste. Der Nachteil in der Bildung ist sonst so gravierend, dass das nicht dem Kindeswohl entsprechen kann.
Wie sehen Sie die Reaktion der Politik auf das revidierte Urteil im Fall Tina?
Ich bin erstaunt über den Umgang des Innenmisters mit der Entscheidung des Verwaltungsgerichtshofes. Die Rechtswidrigkeit der Abschiebung steht fest. Und dann zu sagen, naja, es ändert eigentlich nix daran, dass die Behörde alles richtig gemacht hat, das ist rechtsstaatlich schon bedenklich. Wenn man das weiterdenkt, dann relativiert sich die Bedeutung von gerichtlichen Verfahren. Wenn sich eine Behörde, in dem Fall der Innenminister, hinstellt und meint, eine für alle gültige Entscheidung würde nicht für ihn gelten, dann haben wir ein Problem mit der Gewaltenteilung. Er stellt sich da eigentlich über das Gesetz und über die Rechtsprechung. Es ist wirklich gefährlich, wenn da die Tür einmal aufgemacht wird. Wer bestimmt, dass das in anderen Bereichen nicht auch angewendet werden darf? Das so gelassen hinzunehmen, finde ich extrem bedenklich.
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