
„Die Einzige, die überlebt hat“ - Die Lebensgeschichte der Frau Gertrude
Das Video von Frau Gertrude, in dem sie vor Hetze und falschen Versprechungen warnt, wurde bereits über drei Millionen Mal aufgerufen. Die Auschwitz-Überlebende zeigt sich tief beunruhigt darüber, dass es wieder politische Kräfte gibt, die das Schlechteste im Menschen hervorbringen wollen. Bereits im März sprach Frau Gertrude in der radio-klassik Reihe Passionswege von ihrem Leben. Nehmen Sie sich die Zeit, die Niederschrift dieses bewegenden Gesprächs zu lesen.
Frau Gertrude hat Alexander Van der Bellens Team darum gebeten, dieses Video von ihr zu veröffentlichen. Seitdem geht es um die Welt und wurde schon von mehreren Millionen Menschen angeschaut.
„Die Einzige, die überlebt hat“
In einer Sendung von Marlene Groihofer mit dem Titel „Die Einzige, die überlebt hat“ in der radio klassik-Reihe Passionswege, erzählt Frau Gertrude von ihrem Schicksal. Wir haben den Beitrag transkribiert. Den Podcast findet man unter: https://radioklassik.at/die-einzige-die-ueberlebt-hat/
Erzählerin: Als Hitler in Österreich einmarschiert, ist die Wienerin Gertrude zehn Jahre alt. Sechzehn Jahre alt ist sie, als sie mit ihren Eltern und den zwei jüngeren Brüdern nach Auschwitz deportiert wird. Ihre gesamte Familie wird umgebracht, sie überlebt als einzige. Immer noch fällt es ihr schwer darüber zu sprechen, was damals passiert ist. Marlene Groihofer hat die mittlerweile 88-jährige getroffen. Hören sie nun eine Sendung, die erstmals in der Sendereihe Passionswege zur Fastenzeit ausgestrahlt worden ist und die vergangene Woche beim Österreichischen Radiopreis 2016, mit dem zweiten Platz als bester Wortbeitrag Österreichs ausgezeichnet worden ist.
Gertrude: Auf einmal ist einer vorbei von der SS, also von der Bewachung, da hat er gesagt: „Das wird dich teuer kommen, du gehst auch noch ins Gas. Ich habe gesagt: „es ist mir egal, meine Leute sind schon dort.“
Die haben geschrien, das hat man …. das stinkende Fleisch, das verbrennte. Das hat mich schwer geschockt. Meine Mutter ist und meine Brüder sind Asche. Und mein Vater irgendwo im Straßengraben. Vielleicht hat ihn wer ausgegraben und gefunden und eingegraben, aber wahrscheinlich wie einen Hund.
Fast drei Jahrzehnte hat Gertrude nach dem Krieg geschwiegen. Über das, was ihre Familie, über das, was ihr passiert ist.
Gertrude: Nicht einmal mit meinem Mann habe ich darüber reden können. Es wollte keiner Näheres wissen.
Zwar habe ihr Mann Bescheid gewusst, über ihre Vergangenheit. Einer seiner Cousins aber habe mit dem Nationalsozialismus sympathisiert, sagt Gertrude. Vor ihm habe sie erst recht nichts gesagt.
Gertrude: Ich habe nie die Kraft gehabt, mich innerhalb der Familie - mit jedem anderen kann ich streiten darüber - aber innerhalb der Familie wollte ich eine Ruhe haben. Ich wollte, ich weiß es nicht, wie ich es ausdrücken soll, ich wollte mich dem nicht stellen.
Erst Anfang der siebziger Jahre, dreißig Jahre nach dem Kriegsende, spricht sie in einem Interview mit einer Studentin zum ersten Mal ausführlich über das Erlebte.
Gertrude: Und zwar vom Dokumentationszentrum hat ein Mädchen, das studiert hat und über das schreiben wollte in ihrer Dissertation mich ersucht, ob ich ihr was erzählen würde. Und da habe ich das erste Mal darüber gesprochen.
Erleichternd sei das nicht gewesen.
Gertrude: Für mich damals das Reden …. ich habe tagelang geweint.
Hilfreich sind erst spätere Gespräche mit ihrer Tochter.
Gertrude: Wie ich dann mit ihr darüber reden konnte, wie sie schon erwachsen war und von der Politik was verstanden hat. Vorher habe ichs von ihr fernhalten wollen, weil ich ein Kind nicht belasten will.
Gertrude hat Jahre der Flucht, der Zwangsarbeit, sieben Monate in Auschwitz hinter sich. Sie hat den Krieg überlebt. Aber sie ist die einzige in ihrer Familie. Ihre Mutter, Ihr Vater und ihre zwei kleinen Brüder werden von den Nazis umgebracht. Nie wieder ist die heute 88-jährige nach ihrer Rückkehr nach Wien an die Orte ihre Kindheit im 12. und 20. Bezirk zurückgekehrt.
Gertrude: Ich kann nicht. Ich kann nicht dort hingehen. Mir das anschauen und mir denken, da hat die Mama gelebt und der Papa. Mein Bruder war neun Jahre alt und der andere war dreizehn.
Gertrude selbst ist gerademal sechzehn Jahre alt, als die Familie nach Auschwitz deportiert wird. Sie ist zehn, als Hitler im Jahr 1938 in Österreich einmarschiert. Geboren worden ist die heute 88-jährige im Jahr 1927 in Wien. Im 12. und 20. Bezirk wächst sie auf als Älteste von drei Geschwistern. Ihre Eltern sind Juden, die Mutter ist Vollweise, der Vater ein gelernter Kunst- und Möbeltischler, wollte nie Jude sein.
Gertrude: Die Mutter meines Vaters war ziemlich fromm. Die war in erster Ehe mit einem Rabbiner verheiratet und das hat sich in ihrem Leben ausgewirkt, so zu sagen. Mein Vater wollte nie Jude sein. Der wollte immer katholisch sein. Wieso, weiß ich nicht. Er war „Antisemit“, aber nicht im wirklichen Sinn und hat dann, wie seine Mutter 1932 gestorben ist, 1933 die Familie taufen lassen.
Im Jahr 1938 bekommen die Kinder mit dem Anschluss Österreichs an Nazi-Deutschland zum ersten Mal mit, dass sie eigentlich Juden sind.
Gertrude: Bis dorthin haben wir Kinder es nicht gewusst und wir haben das so erfahren, dass wir plötzlich verfolgt worden sind. Wir mussten die Schule verlassen. Die letzte Zeit des Schuljahrs haben wir die Schule verlassen müssen und sind in der Berggasse, im neunten Bezirk, weiß nicht was das für ein Gebäude war, da haben alle dort hingehen müssen. Alle Schulen der Umgebung sind dort zusammengekommen. Und wenn wir von dort raus gegangen sind, haben wir vorbeigehen müssen am Schubert-Brunnen auf der Liechtensteinstraße ist das, glaube ich, und dort sind Buben gestanden und haben uns mit Steinen beworfen, mit Wasser angeschüttet und geschrien, Juden, Juden, Juden.
Mein Cousin war zwei Jahre älter als ich, der war auch in der Schule, wenn man es so nennen will als Schule, und der hat mich immer auf einen Schleichweg geführt. Der hat mich immer abgepasst und hat mich einen Schleichweg geführt, dass ich dort nicht vorbeigehen muss.
Und noch ein Erlebnis. Mein Bruder hat, als der Hitler gekommen ist, der war erste, zweite Klasse Volkschule und wie der Hitler gekommen ist, haben die Kinder müssen Hakenkreuze zeichnen, als Zeichenübung. Und er hat so sauber, wunderschön zeichnen können. Und er hat das so sauber gemacht, dass der Lehrer das aufgehängt hat: „Schaut wie schön der kleine P. das gemacht hat.“ Der Direktor ist reingekommen und hat gesagt: „Jö, wer hat das schöne Bild gemacht?“ und der Lehrer hat gesagt, der kleine P. Der hat das genommen, runtergerissen und hat gesagt, von Juden hängen wir das nicht auf. Mein Bruder ist weinend nach Hause gekommen und hat das erzählt: „Mama, warum, was hat der gemacht, was habe ich gemacht?“ Vor der ganzen Klasse war er diskriminiert.
Eines Tages ist, weiß ich auch nicht, war das Polizei, war das Militär, mit Gewehr sinds gekommen, an jedem Halbstock ist einer gestanden, zwei haben an die Tür gebumpert. Mein Vater war an dem Tag Zuhause. Warum, weiß ich nicht. Dann rein, meinen Vater genommen und eingesperrt, also mitgenommen, Hände am Rücken. Der Kleine hat so geschrien vor Angst, dass sich ihm die Stimme verlegt hat und er hat nachher eine ganze Woche keinen Ton rausgebracht, nicht reden können und nachdem er wieder reden konnte, hat er sein Leben lang gestottert. Das war der Schock.
Dann haben sie meinen Vater weggeführt. Und die Mama hat uns dann unter Tags zu einem Onkel gebracht, der in er Nähe gewohnt hat und ist überall herumgerannt, an alle Ämter, ob sie erfahren kann, wo mein Vater ist. Dann haben die restlichen Männer Zuhause noch, wie mein Vater weg war, alles durchsucht. Schreibmaschine, Radio mitgenommen, was halt eventuell einen Wert gehabt hat. Und haben dann das begründet, es liegt eine Anzeige vor, dass er Kommunist ist und im Untergrund arbeitet.
Mein Vater war nie Kommunist, er hat sich nie…,der war für die Familie da und ist arbeiten gegangen. Meine Mutter hat mich vom Onkel geholt, also uns, wir sind nach Hause gegangen und ich vergesse das nie, der Kleine wollte aufsperren und man hat ihm eh alles nachgegeben, er war dreieinhalb Jahre alt. Die Mama gibt ihm den Schlüssel und er will ihn reinstecken und die Tür ist von innen aufgegangen. Alle vier, wir drei Kinder und die Mama haben aufgeschrien und dabei wars der Papa, der Zuhause war. Und da hat er dann gesagt, also es war furchtbar, wir werden schauen müssen, dass wir wegkommen von da.
Hat aber nicht lange gedauert, hat er eine Vorladung gekriegt und ich war mit meinen Brüdern, damals hat man auf der Straße gespielt, also vor dem Haus, da sind eh noch keine Autos gefahren. Ich war unten und da ist ein Mann auf der Visasvis Seite gestanden, der hat sich offensichtlich nicht über die Straße gehen getraut und ich bin rübergelaufen und habe gesagt, kann ich ihnen helfen und wollte ihm den Arm geben und habe gesehen, das ist mein Vater. Mein Vater war damals, er ist 1904 geboren, war 34 Jahre alt und ich habe geglaubt, das ist ein alter Mann. So hat er ausgeschaut und wir haben ihn hinaufgeführt und da hat er erzählt, er war in einem kleinen Kammerl eingesperrt, da war ein Kübel Wasser und ein Ausreibfetzen und er hat müssen aufwaschen und wenn er fertig war, hat er einen Tritt gekriegt, das Wasser umgeschmissen und er hat von vorne anfangen müssen und das den ganzen Tag.
Sie haben ihn geschlagen, getreten, sein Anzug war zerrissen, er hat ausgeschaut, ein alter Mann. Zitternd und krank. Auf das rauf hat er dann gesagt, weg, egal wohin.
Der Familie wird ihre Gemeindewohnung weggenommen. Sie wir in Wien obdachlos. Ein Ausreiseverbot in die Schweiz scheitert. Während dieser Zeit wird Gertrude mit ihrem jüngsten Bruder für kurze Zeit bei Nonnen untergebracht.
Gertrude: In Maria Lanzendorf. Dort war ein Heim für schwer erziehbarer Kinder und in den Ferien durften viele Kinder nachhause und dadurch haben sie Platz gehabt und die haben uns dort versteckt. Aber das Problem war, Nonnen lassen Buben und Mädchen nicht in einem Raum schlafen und der Dreieinhalbjährige hat müssen bei den Buben schlafen und ich im Mädchensaal. Und der hat sich gefürchtet natürlich, das Kind. Er hat das erst alles erlebt gehabt. Da bin ich mit ihm am Bankerl gesessen im Park auf meinem Schoß bis das Kind eingeschlafen ist. Dann habe ich ihn raufgetragen, niedergelegt, dann bin ich schlafen gegangen. Das war eine sehr schwere Zeit.
Dann habe ich in der Früh geschaut, dass ich vorher munter bin, raufgerannt bin, dass ich neben seinem Bett sitze, damit er glaubt, ich wäre die ganze Nacht dort gesessen. Sonst wäre er mir darauf nicht mehr reingefallen. So haben wir das überbrückt, aber ich war 11 Jahre alt. Ich war ja auch noch kein Riese. Ich bin sehr gehängt an meinen Geschwistern. Wir haben ein sehr sehr enges Verhältnis gehabt, in der Familie überhaupt. Es war immer einer für den anderen da.
Dann hat der Vater alles Notwendige für die Ausreise aus Wien organisiert. Der Onkel bringt die Familie zum Südbahnhof.
Gertrude: Wir sind eingestiegen und wir haben aus dem Fenster rausgeschaut und da habe ich gesehen beim Telefonwinkel ist er gestanden und hat geweint. Ihn hats geschüttelt. Und dann ist der Zug weggefahren und wie wir dann alle gesessen sind, auf einmal sagt die Mama: „Was ist heute für ein Tag. Der 25. September. Um Gottes Willen, der Kleine hat Geburtstag.“ Dann hat sie im Zug in dem Abteil den Koffer so gelegt, dass er von dem Sitz zu dem Sitz gegangen ist, wie ein Tisch, dann hat sie da ein paar Kekse hingelegt und was zum Trinken und hat zum Kleinen gesagt: „und jetzt feiern wir deinen Geburtstag.“ Und der war ganz stolz. 4. Geburtstag. Und so haben wir Wien verlassen.
Im September 1938 verlässt die Familie Wien in Richtung Jugoslawien.
Gertrude: Mein Vater hat einen Brief gehabt von einem Priester, der dort einen Priester gekannt hat und hat ihm den Brief mitgegeben als Rekommandation so in der Art. Und wir haben die erste Nacht in einem Studentenheim oder so übernachtet, die haben vermietet im Sommer, in den Ferien. Das war grauenhaft. Das war ein riesen Saal mit so vielen Betten. Das wäre ja kein Problem gewesen. Dort waren so viele Wanzen. Und die sind, wie sie den warmen Körper gespürt haben, sind die vom Plafond runtergefallen. Das ging „platsch“, wie als würde es regnen. Das war die erste Nacht in der Emigration.
Die erste Nacht von insgesamt 6 Jahren in der Emigration. Die ersten zwei Jahre ist die die Familie auf der Flucht, quer durch Jugoslawien und Italien. Immer ist da die Angst zu den Nazis abgeschoben zu werden.
Gertrude: Wir haben nirgends lange bleiben dürfen. Mein Vater wollte versuchen an die französische Grenze zu kommen, vielleicht gelingt es ihm mit der Familie nach Frankreich zu kommen. Da waren wir von Triest angefangen überall kurze Zeit. Man musste in jeder Stadt um Aufenthaltsbewilligung ansuchen. Dann wieder weiter über Mailand, Genua, dazwischen Padua, in x Städten waren wir, bis wir nach San Marino gekommen sind. Dort hat er dann Kontakt aufgenommen. Fischer haben mit Fischerbooten Leute nach Frankreich rübergebracht.
Es war schon alles geplant. In ein zwei Tagen wären wir an der Reihe gewesen. In einer dieser zwei Nächte vor uns war ein Kind drinnen und das hat in der Nacht zum Weinen begonnen und die Grenzwache hat das gemerkt und so ist der aufgeflogen. War wieder nichts. Haben wir wieder zurückmüssen. So sind wir gewandert, gewandert, gewandert. Dann sind wir nach Fiume gekommen und wollten wieder zurück nach Jugoslawien, weil in Italien, eben dann mit Mussolini und so, war es sehr unsicher. In Fiume haben wir dann aber keine Einreise bekommen. Da sind wir illegal über die Grenze gegangen. Zwar haben wir das so gemacht: Da war ja eine Grenze zwischen Rijeka und Fiume. Heute ist beides Rijeka. Damals war der Fluss, die eine Hälfte war Italien, Fiume, und die andere Hälfte war Rijeka, Jugoslawien. Und an der Brücke waren natürlich Grenzkontrollen. Da haben wir dort Ball gespielt, offiziell. Ich war eingeweiht. Und den Ball haben wir über die Brücke geschmissen, wie wenn es uns beim Spielen passiert. Und wir Kinder sind dem Ball nachgelaufen und die Grenzwacher haben gelacht, wie die Kinder da laufen. Drüben ist eine Nonne gestanden, die das gewusst hat. Die hat uns in Empfang genommen, ins Auto rein und wir waren weg, wir waren in Jugoslawien.
Aber meine Eltern waren noch in Italien. Wir haben uns nicht umdrehen dürfen, weil die sind sofort verschwunden, damit sie nicht von der Grenzpolizei dort gefasst werden. Die haben nur gesehen, dass wir drüben sind und sind sofort verschwunden und sind dann zu Fuß über die Berge auch nach Jugoslawien. Dort sind sie aufgeschnappt worden und ins Gefängnis gekommen. Also ins Gefängnis, in den Arrest in der Polizeistation.
Gertrude und ihre Brüder werden in der Zwischenzeit in einem Kloster von Nonnen versorgt, dann treffen sie ihre Eltern auf der Polizeistation in Ljubljana wieder. Die versuchen selbst dort ihren Kindern Geborgenheit zu geben.
Gertrude: Mein Vater hat das sehr, also meine Eltern überhaupt, ich sage immer mein Vater, meine Mutter war diejenige, die das Weiche reingebracht hat. Aber mein Vater war mehr der Strengere. Der hat auf den Tisch, der in dem Arrestraum war, eingeritzt mit dem Taschenmesser oder mit einem Bleistift, das weiß ich heute auch nicht mehr, ein Mühlespiel, die Mama hat Knöpfe abgeschnitten vom Gewand und wir haben Mühle gespielt dort. Das hat mein Vater mit uns gespielt. So haben wir die Zeit vertrieben. Mit einem Blatt Papier Lesen und Schreiben Lernen. Wir haben ja keine Schule besuchen dürfen.
Über den Bischof von Ljubljana kommt die Familie frei, entgeht einer Abschiebung nach Deutschland und findet für ein Jahr Unterschlupf in der Nähe von Ljubljana. Ihren Schulbesuch dort und das Erlernen der fremden Sprache hat Gertrude bis heute gut in Erinnerung. Als die Deutschen auch Jugoslawien besetzen, flüchten die Eltern mit ihren Kindern erneut zu den Italienern.
Gertrude: Die Italiener haben dann verlangt, also frei können wir nicht sein, sie waren Partner von Hitler, frei interniert hat das geheißen. Wir wurden registriert und in eine Ortschaft geschickt, die sie bestimmt haben. Das war in der Nähe vom Gardasee. Hat Caprino geheißen und dort sind wir hin transportiert worden. Haben Dort eine Wohnung nehmen dürfen. Mein Vater hat Arbeiten gehen dürfen und wir haben eigentlich frei gelebt. Wir haben aber den Ort nicht verlassen dürfen. Die Pässe sind uns abgenommen worden und dort waren wir interniert.
Und dort haben wir gelebt bis 1943. September 43 war der Separat-Frieden der Italiener, also die haben den Mussolini abgesetzt und der Badoglio hat die Regierung übernommen und hat einen Separat-Frieden geschlossen mit den USA und den Feinden. Das war im September. Im ganzen Ort haben die Friedensglocken geläutet. Der Krieg ist aus. Mein Vater war sehr skeptisch. Hat gesagt, dass lässt sich Hitler nicht gefallen, dass die da separat einen Frieden schließen und tatsächlich sind dann am nächsten Tag schon die ersten deutschen Panzer gekommen und keiner hat raus dürfen. Da haben wir gewusst, jetzt sind wir da gefangen. Jetzt ist kein Entkommen.
Im April 1944 wird die Familie nach Auschwitz deportiert.
Gertrude: Wir sind gefahren, ich glaube mindestens zwei Tage in diesem Zug, Viehwagon, von Italien über den Brenner durch Österreich und wie wir durch Österreich sind, hat mein Vater rausgeschaut und geweint. Da habe ich ihn zum ersten Mal Weinen gesehen. Er hat wahnsinnig Heimweh gehabt. Dann sind wir um, muss fünf Uhr so was in der Früh gewesen sein, kalt wars, ist der Zug angekommen. „Alles aussteigen!“
Da ist schon die SS gestanden. Der hat eine Peitsche im Stiefel gehabt. Die hat er rausgenommen und hat mit dem Stiel von der Peitsche gedeutet: „Rüber! Rüber! Rüber!“ So hat er aussortiert. Die Männer haben überhaupt weg müssen in eine eigene Gruppe und Frauen und Kinder da. Die Mama mit den zwei Buben aufs Lastauto. Ich wollte mitgehen. „Du bleibst da! Du gehst da rüber!“ Ich habe gesagt, das ist doch meine Mutter. Der eine hat gesagt, lass sie, wenn sie will, der andere hat gesagt, na, die kann arbeiten und zu Fuß gehen. So bin ich getrennt worden. Meine Mutter ist auf das Lastauto. In der Aufregung, ich hab sie nicht einmal mehr gesehen.
Ich bin mit dem Trupp Frauen ins Lager hinein. Und dort sind wir: ausziehen, alles Gewand abgeben, Haare abgeschert worden, Nummer eintätowiert worden. In ein Buch eingetragen worden, Name und so weiter. Dann sind wir dort gesessen am Boden, stundenlang. Aber es war so ein Schock. Ich habe weder Hunger gespürt, noch aufs Klo müssen, noch irgendwas. Ich bin dort gesessen, alle miteinander, wir haben nicht geredet. Nichts. Dann hats geheißen, auf wir gehen ins Lager rein. Dann war dort so ein langer Tisch, da war ein Haufen Hosen, ein Haufen Hemden, aber nicht Saubere oder Neue, Kleider. Dann ist einfach eins gezogen worden, hingeschmissen: „Anziehen! Anziehen!“
Ich habe gekriegt ein Kleid, das vergesse ich auch nicht, ich war dünn, wir haben ja schon gehungert vorher, aber das muss ein…, das waren Knöpfe von oben bis unten, lauter Kleine, mit so Schlingen. Das habe ich anziehen müssen. Ich habe ausgesehen wie meine eigene Großmutter. Die Unterhose war fleckig, dreckig. Mit hat es so gegraust. Das war so fürchterlich. Dann sind wir da rein. Und am Zaun, wie wir da durchgegangen sind, habe ich so Figuren gesehen, gebeugt alle, grau, dreckig. Da habe ich mir gedacht, was sind das für Menschen. Sind das Zwerge oder was sind das? Dabei waren das die Insassen, die schon so... Ich habe nach kurzer Zeit auch so ausgeschaut, aber ich hab das momentan gar nicht richtig denkt… und so sind wir in das Lager hineingekommen.
Dann bin ich herumgerannt. Wo sind die mit dem Lastauto reingekommen? Wo ist meine Mutter? Jeder hat nur so ausweichende Antworten gegeben. Die, die mit mir reingekommen sind, haben es auch nicht gewusst, sondern die anderen. Bis eine gesagt hat, ich halte es nicht mehr aus, jetzt sagen wir es dir. Die sind alle schon in dem Schlot dort, siehst du wo das Feuer rauskommt? Die sind alle vergast worden und verbrannt. Ich bin, ich weiß nicht wie, in die Baracke zurück, da waren lauter so Kojen in der Baracke, wo man zu fünft glaube ich in einer so einer Koje drinnen war, war eineinhalb mal eineinhalb Meter. Ich bin da rein und war bewusstlos. Ich weiß nichts.
Und irgendwann mal habe ich das Pfeifen gehört, Appell, ich muss zum Appell und bin aufgestanden, dabei war ich in einer Oberliege und bin runtergefallen. Ich habe mir nichts gemacht, normal bricht man sich was oder tut sich weh, ich hab nichts gespürt, bin aufgestanden und bin mit den anderen zum Appell gegangen. Dann habe ich erfahren, dass ich schon zwei Tage oder wie lang dort gelegen bin und die anderen haben das so geschickt gemacht. Wir haben ja müssen in 5er-Reihen, also immer 5 hintereinander stehen und beim Apell ist aufgerufen worden und man hat schreien müssen: „Hier. Hier. Hier.“ Und die haben für mich „Hier“ geschrien und haben das so geschickt gemacht, dass sie rübergerutscht sind, wenn die die Reihe angeschaut haben, dann sind sie zurück. Und mich haben sie oben mit Decken zugedeckt, dass keiner gesehen hat, dass ich dort lieg. Die haben nicht gewusst, bin ich bewusstlos, bin ich tot. Ich war wahrscheinlich nicht bewusstlos, sondern anscheinend in so einem Tiefschlaf. Ich weiß es nicht.
Dann war ich bis November von 10. April bis 11. November in Auschwitz. Wir haben müssen Graben ausgraben oder irgendwelche unnötigen Arbeiten machen. In der Früh eine Schüssel mit einer Flüssigkeit, wo kein Mensch gewusst hat, was das ist, Wasser, Tee Kaffee, irgendwas war da drinnen mit sehr viel Brom. Das hat man raugespürt. Eine Schüssel für fünf. Die fünf hintereinander. Die erste kriegt. Zu Mittag so eine Schüssel mit einer Kraut- oder Rübensuppe. Jetzt war es so. Die erste hat versucht, weil wenn sie es nur runtergetrunken hätte, hätte sie nur die Flüssigkeit gehabt, die hat versucht das rauszuschlürfen, nicht sehr appetitlich anzusehen, dass wenn es zu mir gekommen ist, hats mir nur gegraust und ich hab gesagt, nur weg.
Ich hab nichts gegessen, bis die anderen gesagt haben, da waren ein paar bisschen ältere Frauen, die gesagt haben, du musst. Erstens musst du was trinken, du musst was essen, du fällst zusammen, du musst. Die haben mir so lange zugeredet, bis ich doch was davon getrunken habe. Aber das hat enorme Überwindung gekostet. Dann wollte ich mal, da war so eine Wasserleitung dort, habe ich mir gedacht, ich muss einen Schluck Wasser trinken. Ich wollte schon trinken, da hat mich wer geschnappt: „Nicht trinken, das Wasser ist rostig, das sind giftige Rohre, trink ja nicht.“ Wir haben nicht zu trinken gehabt, nichts zu essen. Am Abend haben wir gekriegt ein Stückerl Brot, ansonsten meistens nichts dazu. Nur in der Früh das Wasser, den Tee, zu Mittag diese Suppe und am Abend ein Stück Brot. Aber ich kann nicht sagen, ich habe keinen Hunger gespürt. Der Schockzustand hat eigentlich so angehalten, dass …
Einmal haben wir einen Graben ausgraben müssen. Die Kraft haben wir ja nicht gehabt. Mit einer Schaufel und einem Spaten und da ist ein SS Mann gekommen, er war klein und zart, hat er gewirkt, aber natürlich die Uniform. Ist er da reingesprungen in den Graben. Ich bin gerade gestanden dort und er hat gesagt, jetzt werde ich euch zeigen wie das geht. Hat geschaufelt und hat mir das hingeschmissen. Ich habs müssen auffangen und raufschmeißen die Erde. Und er wieder. Bumm, zack, bumm, zack. Und ich habe da mitgehalten. Auf einmal hat er mich angeschaut und hat gesagt: „Alle Achtung.“ Und ist rausgesprungen und war weg. Dann wie der weg war, habe ich es nicht mehr können. Aber den habe ich, da habe ich mir gedacht, du nicht. Das war so der eiserne Wille.
Es waren ein paar so Szenen, wo…. Ich habe irgendwo gearbeitet. Auf einmal war Alarm. Alle müssen in die Barracken. Ich habe das anscheinend nicht gehört. Ich habe weitergemacht. Auf einmal ist da einer vorbei von der SS, also von der Bewachung und hat gesagt, was machst du noch da, alle in die Baracke. Ich hab das nicht gehört. „Ach dann komm“, hat er gesagt, „das wird dich teuer kommen. Du gehst auch noch ins Gas.“ Ich habe gesagt, dass ist egal, meine Leute sind schon dort. Der hat mich angeschaut. „War das deine ernste Antwort?“. Ich habe gesagt, ja, eines Tages wirds eh sein. Sie können mir nicht drohen. „Sei nicht so blöd“, hat er gesagt. Ich bin in die Baracke und er hat mich gehen lassen. Also ich war kein Held, sondern ich war gleichgültig.
Lange noch hofft Gertrude, dass ihr Vater noch lebt. Dass auch er längst tot ist, erfährt sie erst nach dem Krieg.
Gertrude: Ich habe mir immer eingeredet, ich will meinem Vater zu Liebe leben. Das war ein Motor für mich. Wenn der überlebt das Ganze und niemand ist mehr da, dass wenigstens ich noch da bin. Das war immer das ich muss für meinen Vater überleben. Ich habe dann nach dem Krieg über das Rote Kreuz erfahren, vermutlich, beweisen haben sie es nicht können, er ist von Auschwitz nach Sosnowitz verlegt worden. Wo Sosnowitz ist, das weiß ich nicht, das habe ich damals das erste Mal gehört und ist unterwegs zusammengebrochen. Vermutlich liegt er auch in einem Straßengraben. Wenn man zusammengebrochen ist, haben sie die Leute, die nicht weiterkonnten, erschossen. Das war so, auch bei uns.
Sie habe sich geschworen, sich ihre Menschenwürde nicht nehmen zu lassen, sagt Gertrude. Sieben Monate verbringt sie in Auschwitz. 17 Jahre alt wird sie dort.
Gertrude: Jeder hat eine Decke bekommen. So wie man die Pferde abdeckt, so eine Decke. Keinen Polster, sonst nichts. In der Nacht sind manchmal die SS gekommen, gepfiffen, wir haben aufstehen müssen uns nackt aufstellen, die sind durchgegangen, haben uns angeschaut, irgendwelche Kommentare, blöde Dinge, mit der Peitschen wo ein bisschen hingehaut, je nachdem wie sie gelaunt waren. Dann gepfiffen und wir haben wieder ins Bett müssen und die sind gegangen. Manchmal ists gewesen, dass sie eine Aussortierung… Da hat man sich müssen aufstellen, dann sind sie durchgegangen und haben gesagt: „Die, die, die.“ Und einer ist hinten nachgegangen und hat die Nummern aufgeschrieben. Wir müssen so dort stehen. Die sind in der Früh geholt worden und vergast worden.
Einmal bin ich auf der Liste gestanden als Letzte. Die die das geschrieben hat, hat mich angeschaut und hat so gemacht und hat mich nicht dazugeschrieben. Schicksal. Warum, weiß ich nicht. Sie hat ja alle anderen auch aufgeschrieben. Dadurch, dass ich die Letzte war. Ich weiß nicht.
Da war eine Szene in Auschwitz, die sehr prägend war für mich. Da ist aus Ungarn ein Transport gekommen. Wir haben vermutet es sind Zigeuner, weil sie waren sehr bunt gekleidet, schwarze Zöpfe, haben gesungen auf dem Lastauto. Ich weiß nicht, obs wirklich Zigeuner waren. Die sind mit einem Auto zu einer Grube geführt worden, der Lastwagen ist gekippt, die sind dort reingefallen, die haben natürlich geschrien, eh klar. Oben drauf ein Benzin, angezündet und sind bei lebendigem Leib verbrannt worden. Die Hinteren sind eh schon erstickt. Die obersten sicher nicht. Das hat mich – ich habe im KZ vieles gesehen, was – wir haben nicht nur einmal Tote mit der Schreibtruhe rausgetragen. Es haben welche flüchten wollen, die sind aufgehängt worden vor unseren Augen.
Es waren viele Sachen, die man in meinem Altern normalerweise nicht verkraften kann oder, aber das mit den Ungarinnen. Die habe ich so beneidet, wie die reingekommen sind. So schöne schwarze Haare und ein schönes Gewand und wir dreckig und verlaust und ich habe mir gedacht, sind die schön. Ich habe die bewundert, wie man einen Schauspieler… dann sind die bei lebendigem Leib verbrannt worden. Die haben geschrien, das hat man bis wohin…, das stinkende Fleisch, das verbrennte. Das hat mich schwer geschockt. Man hats verkraftet, aber wirklich verkraftet habe ich es bis heute nicht.
Gertrude wird in Auschwitz schließlich Läuferin. Sie wird als Botin zwischen den verschiedenen Teilen des Lagers eingesetzt. Im November 1944, nach sieben Monaten gelingt es ihr, das größte deutsche Vernichtungslager zu verlassen.
Gertrude: Am 11. November 1944 ist eine Kommission gekommen und hat angeblich Arbeiter gesucht, die gut sehen und gutes Fingerspitzengefühl haben. Ich habe nicht gewusst für was, aber ich habe mich nicht melden dürfen, weil ich Läuferin war. Ich habe diese Binde wo draufgestanden ist „Läuferin“ runtergenommen und bin hingegangen und habe mich gemeldet. Ich habe nur das Gefühl gehabt, weg von da, lange halte ich das nicht mehr durch. Ich hab den Test sehr gut bestanden. Ich habe damals gut gesehen, Nähen habe ich auch können und da hat man so Glasblätter, so ein Stück Glas und zwischen diesem Glas ist ein Faden oder ein Haar gelegen und das hat man müssen erkennen. Das habe ich erkannt. Da hat der gesagt, die ist gut, die nehmen wir.
Sofort habe ich von der Kommission aus nicht mehr zurückdürfen, sondern wir sind in einen Waggon rein. Das war Vormittag. Dann sind wir dort gestanden und der Zug ist nicht weggefahren. Ich habe so eine Angst gehabt, dass die draufkommen, dass ich nicht mehr dort bin. Ich wäre ja aufgefallen, wenn ich nicht am Tor gestanden wäre. Bin aber anscheinend nicht aufgefallen und gegen Abend hat sich endlich der Zug in Bewegung gesetzt und wir sind nach Breslau transportiert worden. Dort war eine Phillips Fabrik, aber außerhalb von Breslau war das Lager. Da sind wir in das Lager gekommen und haben in Breslau in der Fabrik gearbeitet und zwar Lampen zusammengesetzt, Glühlampen für Flugzeuge und so. Das ist natürlich immer geprüft worden, ob wir nicht Sabotage betreiben. Was wir teilweise gemacht haben, weil wir gewusst haben, das geht durch ohne…
Da war ich wenigstens unter Tags in einem warmen Raum. Die Fabrik war ja geheizt. Aber wenn Fliegeralarm war, sind die Arbeiterinnen in den Keller gegangen und wir haben rausgehen müssen und im Hof haben wir uns müssen am Boden hocken, so, damit wir von oben ausschauen wie Kraut, ist uns gesagt worden, der runde Rücken. Weil, wenn die Flugzeuge drüberfliegen, dass sie nicht erkennen, dass da Menschen sind. Und da haben wir müssen so schön, wie wenn wir Krauthappeln wären, nebeneinander. In der Kälte da draußen und die sind meistens mittags gekommen und da haben wir die Suppe nicht gekriegt. Wenn wir zurückgekommen sind, war wieder Arbeitszeit. Und ich habe nicht zu Essen gekriegt. Normalerweise haben wir von der Fabrik ein Supperl gekriegt. Dann sind wir, wenn Fliegeralarm war, um das auch umgefallen.
Dann ist der Winter gekommen und wir haben müssen jeden Tag in die Fabrik und von der Fabrik zurück. Da waren Schneestürme. Das war ganz arg. Das war so arg manchmal, dass sich die SS, die uns begleitet hat, wir haben immer müssen in 5erReihen gehen, eingehängt haben, damit sies nicht umstoßt. Die haben sich in uns eingehängt, obwohl wir verlaust waren, weil wir haben uns ja nie waschen können richtig. Da ist manchmal das Eis und der Schnee auf den Stufen gepickt. Da ist es mir gelungen in der Wäschekammer eine Weste zu organisieren. Da habe ich feinsäuberlich die Ärmel rausgetrennt und habe mir das als Hose jeden Ärmel angezogen. Auf den Armen habe ich das eher vertragen, dass mir kalt ist, als auf den Beinen.
Eines Tages hat es geheißen, Freiwillige, wer meldet sich die Fabrik reinigen, die Räume reinigen? Da habe ich mich gemeldet. Da war der Saal leer natürlich, aber schön warm. Da haben wir einen Kübel Wasser gekriegt und eine Stelle, wo wir Wasser holen können, um das zu Reinigen. Ich bin zuerst aufs Klo gegangen, habe mich gewaschen von oben bis unten. Mit dem Wasser, das war dann schon dreckig, habe ich dann die Tische, die Sessel und den Boden gereinigt. Hab mein Gewand ausgewaschen und über die Heizung gehängt. Dann als warmer aber noch feuchter angezogen und zum Zurückmarschieren in die Baracke. Wenn ich das heute mache, sterbe ich an einer Lungenentzündung. Das habe ich damals alles ausgehalten.
Dann ist die Front immer näher gekommen zu Breslau. Wir haben dann schon die Kämpfe gehört, angeblich waren sie zehn Kilometer weg von der Stadt und dann sind wir von dort immer weiter weg ins Landesinnere Deutschlands transportiert worden.
Von Breslau aus kommt Gertrude in Etappen bis Hamburg. In tagelangen Fußmärschen und zwischenzeitlichen Transporten in Viehwagons. Viele sind zusammengebrochen, erzählt sie. In einem Salzbergwerk muss sie Eisenblättchen für die Flugzeugproduktion ausstanzen, dann in Hamburg Panzergräben bauen.
Gertrude: Eines Tages hat es geheißen: „Aufstellen!“ und 1.000 Personen sind abgezählt worden. Und einige haben sich gefürchtet und haben gesagt, da werden wir erschossen und haben geschaut, dass sie immer einen Schritt zurück und einen Schritt zurück. Ich habe mir gedacht, weg von da, ärger kanns nicht mehr werden. Und wenn sie mich erschießen, ich halte es eh nicht mehr lange aus da. Und habe geschaut, dass ich mich vordränge.
Gertrude schafft es unter die Tausend und kommt frei. Denn es handelt sich um einen Gefangenenaustausch vom schwedischen Grafen Bernadotte. Erst wird sie nach Dänemark gebracht, plötzlich ist das Frühjahr 1945 da und der Krieg offiziell aus. In Schweden nimmt eine entfernte Verwandte sie vorübergehend auf. Dann wird Gertrude krank und wieder gesund. Sie arbeitet in einer Handtaschenfabrik in Stockholm und kommt im Alter von zwanzig Jahren und mit Hilfe der Kreisky-Gesandtschaft zurück nach Wien. Hier zieht sie bei ihrer Tante ein. Später heiratet sie, bekommt eine Tochter und arbeitet als Abteilungsleiterin im Baustoffhandel. Ihren Glauben hat sie im KZ verloren, sagt sie. Auf die Frage, warum ich, kennt sie nur eine Antwort:
Gertrude: Schicksal. Ich glaube an Schicksal. Ich glaube an eine Fügung, wenn sie wollen, wenn sie es so nehmen wollen. An eine Bestimmung. Also insofern habe ich vielleicht den Glauben behalten.
Immer noch kann die heute 88-jährige Wienerin nicht mit jedem über ihr Schicksal reden.
Gertrude: Wie soll ich sagen? Es ist noch immer, wenn ich an meine Mutter denke, an meinen Vater, an meine Geschwister….es tut mir noch genauso weh wie vor 30 Jahren. Sagen wir es so. Aber ich bin ruhiger geworden, distanzierter, ich weiß nicht, was ich sagen soll, alt. Ich nehm das heute geschichtlich, wenn sie so wollen, nicht mehr so persönlich.
Nach dem Krieg hat sie erst lernen müssen, wieder zu vertrauen. Polen will sie nie wieder betreten. Mit den heutigen Kriegsflüchtlingen fühlt Gertrude sehr mit und sie hat Angst vor dem was vielleicht noch kommt, sagt sie. Nicht mehr um sich selbst, aber um ihre Tochter.
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