
„Ich bin Traiskirchner“
Das sagt ein Familienvater stolz, der 2014 aus Syrien geflohen ist und hier eine neue Heimat gefunden hat. Traiskirchen zeigt sich als linke Stadt im schwarz-blauen Niederösterreich. Bürgermeister Andreas Babler fährt damit Wahlerfolge ein. Ein Lokalaugenschein. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Reportage: Milena Österreicher
Nähert man sich der Ortseinfahrt Traiskirchens, zeigt ein Pfeil links zum Garten der Begegnung. Ein Projekt, wo Geflüchtete und Einheimische seit 2015 gemeinsam einen riesigen Garten bewirtschaften und den Stadtbewohner*innen günstiges Obst und Gemüse bieten. Ein paar Meter weiter beginnt die lange, rote Ziegelsteinmauer, hinter der sich das Erstaufnahmezentrum auftürmt. Zwei Straßen entfernt steht heute an der Ecke ein weißer Lieferwagen einer Tischlerei. Er gehört Delshad Bazari, der im großen Wohnhaus nebenan lebt.
In Traiskirchen ist eine von zwei Erstaufnahmestellen für Asylwerber*innen in Österreich angesiedelt.
Das Zusammenleben funktioniert gut.
Der Kurde ist am 12. Oktober 2014 nach Traiskirchen gekommen. Von Syrien über die Türkei, Bulgarien, Serbien und Ungarn ist Bazari nach Österreich geflohen. Sein Ziel? Ein Land mit Sicherheit. Drei Tage verbrachte er in der Erstaufnahmestelle, wo geprüft wird, ob Österreich für die Antragsteller*innen zuständig ist. Danach kam der Syrer nach Grimmenstein, später nach Wien.
Nach 39 Tagen erhält er einen positiven Bescheid. Wichtige Daten wie diese haben sich Bazari im Gedächtnis eingebrannt. Ein Jahr später gelingt es ihm, seine Frau und die drei Kinder nachzuholen. Heute sitzt er auf dem dunkelroten Sofa seiner Wohnung in Traiskirchen und erzählt.
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FAMILIE BAZARI: IM GEGENSATZ ZU WIEN HAT DIE
FAMILIE HIER SCHNELL ANSCHLUSS GEFUNDEN.
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Ankommen
„Ich bin jetzt Traiskirchner“, sagt der Familienvater mit Stolz. Im Gegensatz zu Wien hat die Familie hier schnell Anschluss gefunden, vor allem durch Projekte wie dem Garten der Begegnung oder connect.traiskirchen, das bis 2016 Freizeitangebote in der ehemaligen Semperit-Halle bot. „Ich habe anfangs nur durch den Kontakt mit den Menschen Deutsch gelernt“, berichtet Bazaris Frau, Rouken Al Suleiman. Von ihrem Küchenfenster aus blicken die beiden auf den Eingangsbereich des Flüchtlingszentrums. Hier trafen sich auch ab Herbst die vielen Menschen, die Schlange standen, um Essen zu bekommen, Menschen, die an der falschen Adresse gestrandet waren, Menschen, die nicht wissen, wo sie die Nacht verbringen sollen.
Quartiernot
Im Vorjahr war die Zahl der Asylanträge in Rekordhöhe geschossen. Knapp 109.000 Personen suchten um Asyl an. Heute weiß man, dass etwa die Hälfte der Verfahren wieder eingestellt wurde, da die Menschen weitergezogen waren. Die Grundversorgung war dennoch bis ans Spitzenmaß belastet, auch wegen der geflüchteten Ukrainer*innen, die allerdings zu einem Großteil in Privatquartieren unterkamen.
Die Bundesländer – mit Ausnahme von Wien und dem Burgenland – erfüllten ihre Aufnahmequote nicht. Quartiere fehlen, es reibt sich unter anderem an der Finanzierung. Diese erfolgt bei den Grundversorgungsplätzen über Tagsätze: Unterkunftgeber*innen bekommen pro Person pro Tag maximal 25 Euro. Eine Summe, die für Unterkunft sowie Verpflegung kaum reicht. So schlossen viele nicht voll ausgelastete Quartiere in den vergangenen Jahren.
Seit August des Vorjahres stehen Delshad Bazari und Rouken Al Suleiman nach Möglichkeit täglich vor dem Zentrum, schenken Tee aus, verteilen Kuchen, unterhalten sich mit den Menschen. Wenn jemand nicht weiß, wo er oder sie die Nacht verbringen soll, versuchen sie, ein Notquartier für eine Nacht zu organisieren.
Delshad Bazari und Rouken al Suleiman: stehen so oft wie möglich vor dem Asylzentrum und schenken Tee aus,
verteilen Kuchen und unterstützen die Neuankömmlinge.
Gestrandet
Auch heute steht ein Junge vor dem Eingang des Zentrums. Yasin B. ist 20 Jahre alt, vor eineinhalb Monaten kam der Iraker nach Österreich. Er sagt, er sei von Wien nach Traiskirchen geschickt worden, dann gab es einen Transfer nach Klagenfurt und nun wieder nach Traiskirchen zurück. Man sagte ihm, es gebe ein Problem mit dem System. Eigentlich ist er seit Ende Dezember aus der Grundversorgung abgemeldet, die Erstaufnahmestelle kann er dementsprechend nicht mehr betreten.
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DIE ZAHLEN IM ERSTAUFNAHMEZENTRUM WERDEN
VOM INNENMINISTERIUM KÜNSTLICH HOCHGEHALTEN.
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Er weiß nicht, was er tun soll. Bibbernd steht er in einer dünnen schwarzen Daunenjacke auf dem Gehsteig. Der Thermostat zeigt vier Grad. „Ich habe seit zwei Tagen nichts mehr gegessen“, erzählt er. Delshad Bazari legt ihm kurz die Hand auf die Schulter, sagt, er werde sich darum kümmern.
„Wenn ich jemanden sehe, der Hilfe braucht, kann ich nicht ruhig bleiben“, erklärt Bazari später. Er erinnert sich an seine Fluchtversuche in der Türkei, daran, dass er vor seiner Familie vom türkischen Militär geschlagen worden war. „Ich kann es nicht mitansehen, wenn Menschen unter ihrer Würde behandelt werden“, sagt er.
Humaner Zugang
Für einen menschenwürdigen Umgang mit Geflüchteten setzt sich auch Traiskirchens Bürgermeister Andreas – von allen nur „Andi“ genannt – Babler ein. Und das erfolgreich. Babler erreicht Wahlergebnisse, für die ihn die Bundes-SPÖ wohl beneidet. Knapp 47 Prozent, ein Plus von rund 4 Prozentpunkten, waren das Ergebnis der heurigen Landtagswahl für die SPÖ in Traiskirchen. Auch an Vorzugsstimmen räumte er als Listenletzter ab und kam auf 21.247 Vorzugsstimmen. Der Spitzenkandidat in Niederösterreich, Franz Schnabl, erhielt gerade einmal 3.000 Stimmen mehr.
Im Rathaus am Hauptplatz der rund 21.000 Einwohner*innen zählenden Stadtgemeinde empfängt der Bürgermeister in Jeans und grauer Weste mit einem Löwen-Emblem den Basketballverein „Traiskirchen Lions“, der in der Bundesliga spielt. „Die Zahlen im Erstaufnahmezentrum werden vom Innenministerium künstlich hochgehalten, das die Stelle betreut“, sagt Babler Ende Jänner, eine Woche vor der niederösterreichischen Landtagswahl, während neben ihm die letzten Wahlplakate aufgerollt werden. „Mut und Haltung“ ist sein Slogan.
Er lese jeden Tag im Teletext von den Vertreibungen, Anschlägen und Hinrichtungen. „Es ist nicht lustig, wenn du heute in Afghanistan lebst oder in Syrien verfolgt wirst“, sagt Babler. Neulich habe er Kopten, die aus Ägypten geflohen sind, im Ort kennengelernt. „Flucht hat Ursachen, das darf man nicht aus den Augen verlieren.“
In seinen Jugendjahren besuchte Babler mit der Sozialistischen Jugend immer wieder Flüchtlingslager im Ausland: im Südlibanon, in Algerien, in Mauretanien. „Das sind andere Dimensionen als in Europa“, sagt der SPÖ-Politiker. Sehr eindrucksvoll sei das gewesen. „Da erscheinen die Zahlen und Aufgabenstellung in Österreich gering – und trotzdem wird so ein Theater gemacht“, meint er.
Bürgermeister Andi Babler wird immer wieder als Beispiel herangezogen,
wenn es darum geht, wie Parteien gegenüber der erstarkenden FPÖ punkten können.
Rat aus Traiskirchen
Immer wieder bekomme er Anrufe von Bürgermeister*innen – hauptsächlich aus der eigenen Partei, ab und an auch von anderen –, die ihn um Rat fragen, wenn ein Flüchtlingsquartier in ihrem Ort geplant wird. Das Problem sei oftmals das Vertrauen, das die Politik verspielt hat, und das andere Gemeinden in der Gemeinde Traiskirchen noch sehen würden.
Rund 1.600 Menschen waren laut Innenministerium zuletzt im Erstaufnahmelager untergebracht. „Vereinbart waren maximal 500 Personen, wo noch eine menschliche Betreuung möglich ist“, berichtet der Bürgermeister. Sein Tipp an die Kolleg*innen? Gute Personal- und Versorgungsschlüssel aushandeln, eine Tagesstruktur bieten. „Die Menschen sind bei den langen Wartezeiten ja zum Nichtstun verdammt.“ Dank des schnellen positiven Bescheids konnte der Syrer Delshad Bazari damals rasch bei einem Tischlereibetrieb andocken. Kontakte und Unterstützung bekam er über den Garten der Begegnung. 2018 machte er sich selbstständig. Es laufe gut, berichtet er, nur die Pandemie-Jahre waren etwas schwierig.
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WIR MÜSSEN KONSEQUENT UND
GLAUBWÜRDIG SEIN. ANDREAS BABLER
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Seit er und seine Familie in Europa sind, merkt er den ständigen Fokus der Politiker*innen auf den Geflüchteten – von Erdogan in der Türkei bis zur FPÖ in Österreich. „Ich würde manche Parteien gern fragen: Angenommen, es gebe keine Flüchtlinge mehr weltweit, was wäre dann euer Programm?“
Abgrenzung gegen rechts
Bürgermeister Andi Babler wird auch deshalb immer wieder als Beispiel herangezogen, wenn es darum geht, wie Parteien gegenüber der bundesweit wieder erstarkenden FPÖ punkten können. Er spricht über Pflege, Bildung und das Recht auf ein würdiges Leben für alle. Initiativen wie „Der gute Laden“, der für Menschen mit schwachem Einkommen da ist; ein wöchentlicher Friedhof-Fahrtendienst, den Ehrenamtliche möglich machen; oder „Traiskirchen hilft“, ein Einkaufs- und Bringdienst, der in Corona-Zeiten entstanden ist, punkten.
Bei der letzten Gemeinderatswahl 2020 gewann die Babler-SPÖ fast 72 Prozent der Stimmen, ÖVP und FPÖ lagen mit elf bzw. zehn Prozent abgeschlagen dahinter. „Wir müssen konsequent und glaubwürdig sein“, sagt Babler. Eine gefestigte Haltung fehle seiner SPÖ auf Bundesebene, aber auch anderen Parteien.
Während sich die politischen Diskursmühlen weiterdrehen, bereiten Delshad Bazari und Rouken Al Suleiman die Verpflegung für den kommenden Tag vor. „Wir können einfach nicht stillsitzen“, sagt der Traiskirchner. Ende Jänner wurden die beiden mit dem Goldenen Ehrenzeichen zu Ehrenbürger*innen der Stadt ernannt.
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