
„Mengele zu hängen, hätte nichts geändert“
Sie hat das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau und die Experimente Mengeles überlebt. Ein Gespräch mit der Shoa-Überlebenden Eva Kor über den Versuch einer Selbstbefreiung. Interview: Clara Akinyosoye
Sie waren bei der Verhandlung gegen den Nationalsozialisten Oskar Gröning in Deutschland dabei. Sie haben ihm die Hand gereicht und ihm vergeben. Warum haben Sie das getan?
Menschen fragen mich immer wieder danach. Und ich frage sie dann: Habe ich das Recht, frei zu sein?
Natürlich.
Und wie werde ich frei? Indem ich vergebe. Ich vergebe den Nazis nicht, um ihnen etwas zu geben. Ich weiß nicht, ob es ihnen was bedeutet. Ich vergebe, um frei zu sein. Indem ich ihnen vergebe, entferne ich den Schmerz aus meinem Leben. Wenn Menschen uns verletzten, dann bricht etwas in unserer Seele. Wir sind nicht mehr ganz. Und der einzige Weg, um mich wieder ganz zu fühlen, war zu vergeben. Ich kann nicht ändern, was passiert ist. Ich vergesse und verleugne damit nicht, was geschehen ist. Wenn ein Mensch ein Opfer wird, wird er verletzt, er fühlt sich hoffnungslos und machtlos. Er fühlt, dass er keine Macht hat, sich aus dieser Situation zu befreien. Aber eine Macht gibt es noch. Das hab ich 1995 entdeckt.
Wie sind Sie erstmals auf den Gedanken gekommen, den Nazis zu vergeben?
Es war nicht so, dass ich in einem Zimmer gesessen bin und mir gedacht habe, ich könnte heute den Nazis vergeben. Es fing damit an, dass meine Schwester gestorben ist. Ich war verzweifelt. Ich hatte Alpträume, in denen ich fühlte, wie sie erstickt. Ich habe versucht, mit dem Schmerz umzugehen, indem ich etwas tue, um an sie zu erinnern. Also habe ich zwei Jahre später ein Holocaust-Museum eröffnet. Die Alpträume verschwanden.
Eines Tages erhielt ich einen Anruf, ich sollte als Überlebende an einer Veranstaltung teilnehmen und man suchte auch einen Nazi-Arzt aus Auschwitz. Ich fand Hans Münch, er wollte zwar nicht kommen, aber er lud mich zu sich nach Deutschland ein. Und so traf ich einen Nazi-Doktor aus Auschwitz. Es war nicht mein Arzt, aber er war ein Freund von Mengele.
Er war der erste Nazi, dem Sie vergeben wollten?
Er hat mir Informationen über die Gaskammern gegeben, die ich vorher noch nie gehört hatte. Als ich ihn fragte, was er über die Gaskammern wisse, sagte er, das sei der Horror, mit dem er leben müsse. Er erzählte, wie die Menschen in die Gaskammern gebracht wurden und danach ein Totenschein für alle ausgestellt wurde. Er war einverstanden, mit mir zu der Gedenkveranstaltung zur Befreiung von Ausschwitz zu kommen und eine schriftliche Erklärung über die Geschehnisse dort zu unterschreiben. Das war wichtig. Wenn jemand sagt, dass es keine Gaskammern gibt, kann man ihm dieses Dokument ins Gesicht halten. Ein Dokument, in dem ein Nazi erklärt, dass es Gaskammern gab. Ich wollte ihm dafür danken, ihm etwas schenken. Ich habe lange darüber nachgedacht – beim Autofahren, beim Putzen, beim Kochen. Irgendwann dachte ich, wie wäre es mit einem Brief, in dem ich ihm vergebe?
Könnte man sagen, dass dieser Moment Ihr Leben verändert hat?
Ich entdeckte damals, dass ich, deren Leben man auf den Kopf gestellt hatte, doch noch Macht habe. Die Macht, zu vergeben. Ich habe zehn Monate an dem Brief geschrieben und ihn dann meiner Englisch-Lehrerin gezeigt. Sie sagte mir, dass es nett sei, dass ich Münch vergebe, aber dass er nicht derjenige war, der mir etwas angetan hatte, sondern Josef Mengele. Ich sollte versuchen, einen Brief an ihn zu schreiben und ihm zu vergeben. Ich sollte es probieren und schauen, wie ich mich dabei fühle. Ich suchte mir aus dem Wörterbuch beleidigende Worte und machte eine Liste. Am Ende des Briefes aber, schrieb ich: Ich vergebe Ihnen. Es war ein interessantes Gefühl, dass ich die Macht hatte, Josef Mengele zu vergeben. Es gab nichts, dass er dafür oder dagegen tun konnte. Ich wusste, wenn ich Mengele vergeben konnte, der der Schlimmste war, dann gibt es nichts, dass ich nicht schaffen kann.
Die meisten Menschen sind wahrscheinlich der Meinung, dass es, um Vergebung zu erhalten, notwendig ist, zu bereuen und um Verzeihung zu bitten. Wie sehen Sie das?
Ein Rabbi hat mir einmal gesagt, um Vergebung zu erhalten, muss man um Vergebung bitten. Denken wir das einmal durch: Ich muss warten, bis ein Nazi mich um Vergebung bittet? Wer hat dann die Macht? Warum sollte ich einem Nazi noch mehr Macht geben wollen? Wir müssen diese alten Vorstellungen von Vergebung loswerden. Denn sie sind unfair gegenüber den Opfern. Ich gebe Opfern die Möglichkeit, frei zu sein. Niemals darf man darauf warten, von den TäterInnen befreit zu werden. Ich entscheide, wann und wem ich vergebe. Das ist meine Macht. Ich habe tausende Briefe von Menschen bekommen, denen Schlimmes angetan wurde. Nichts anderes als Vergebung hilft. Es gibt auch viele PsychologInnen, die meine Ansicht teilen. Durch Vergebung kann man seine Seele heilen.
Sie mussten für Ihre Ansichten viel Kritik einstecken. Kränkt es Sie, dass viele Überlebende Ihnen übelnehmen, dass Sie den Nazis öffentlich vergeben haben?
Ich bin nicht gekränkt. Die Menschen tun mir sehr leid. Ich sprach einmal in einer Synagoge über mein Konzept der Vergebung. Eine Überlebende verlangte danach die gleiche Redezeit, um dagegen zu sprechen. Sie war sehr wütend. Sie fühlte sich angegriffen. Ich sagte ihr: ‚Warum sollte ich dich angreifen? Ich liebe dich. Wir haben alle gemeinsam überlebt‘. Ich weiß nicht warum die anderen so böse auf mich sind. Solange ich so war wie sie, die Nazis hasste, war alles ok. Aber ich war nicht glücklich damit. Mir wurde oft vorgeworfen, dass ich im Namen der Überlebenden den Nazis vergeben hätte, aber das stimmt nicht. Ich spreche nur in meinem Namen. Viele Menschen glauben, wenn wir alle Nazis gehängt hätten, würde es den Überlebenden besser gehen. Aber was mit uns passiert ist, kann dadurch nicht geändert werden und nicht geheilt. Wenn Mengele gehängt worden wäre, hätte es nichts daran geändert, dass ich mit 11 Jahren ein Waisenkind wurde, dass ich die Hölle auf Erden durchleben musste. Ich sorge mich nicht um die Täter, ich sorge mich um die Opfer.
Kennen Sie auch andere Überlebende, die das so sehen?
Ich habe nur sehr wenige getroffen.
In ihrem Buch schreiben Sie, dass Sie Oskar Gröning nach seinem Prozess wieder sehen wollten. Wieso wollten Sie diesen Mann noch einmal treffen?
Ich will ihn wieder treffen. Er kann mir mehr über Auschwitz erzählen. Ich will verstehen, wie sich ein menschliches Wesen an so einem Massenmord, wie er in Auschwitz verübt wurde, beteiligen kann. Ich will wissen, was er in Auschwitz gemacht hat, wie er dort funktioniert hat, was er in der Nacht gemacht hat, nachdem er Tötungen beobachtet hat.
Sie sind vor mehr als 70 Jahren aus Auschwitz befreit worden. Wie allgegenwärtig ist ihre Zeit in dem Konzentrationslager für Sie?
Mein tägliches Leben dreht sich um Auschwitz. Ich habe mein Museum, ich spreche sehr viel über Auschwitz, besonders mit Jugendlichen. Ich kann nicht die ganze Welt ändern, aber ich kann Teile davon ändern. Wenn man etwas ändern will, soll man Gutes tun, um Menschen zu helfen. Es gibt viel, das man tun kann. Ich bin wahrscheinlich die glücklichste 83-Jährige, die ich kenne. Ich sitze nicht zuhause und bemitleide mich. Ich kann noch sehr viel tun.
Heutzutage gehen immer mehr Juden aus europäischen Ländern nach Israel, weil sie Anfeindungen erleben. Wie fühlen Sie sich, wenn Sie das hören?
Antisemitismus ist eine sehr alte Krankheit. Immer wenn etwas falsch lief, wurden Juden beschuldigt und das ist bis heute so. Ich versuche, die Menschen davon zu überzeugen, dass das falsch ist. Ich werde immer gegen Antisemitismus und alle Vorurteile gegen Menschen aufstehen – egal gegen wen sich diese Vorurteile richten, ob Christen, Muslime oder Bahai. Vorurteile sind immer falsch und verletzen immer Menschen. Wir müssen aus der Geschichte lernen, wozu Vorurteile geführt haben und führen können.
Hat die Gesellschaft denn aus der Geschichte gelernt?
Die Gesellschaft hat aus der Geschichte leider nicht gelernt. Das ist die Tragödie. Mit all den Möglichkeiten via Internet zu kommunizieren, glaube ich, verbreitet sich das Schlechte schneller als das Gute. Es gibt viele gute Menschen, aber ich denke, sie verbreiten ihre Botschaften nicht so schnell, wie die Bösen das tun. Es ist wohl einfacher zu zerstören, als aufzubauen. Wie lang dauert es, ein Haus zu bauen? Drei oder sechs Monate. Wie lang dauert es, ein Haus zu zerstören? Es braucht nur eine Bombe. Und wie lang dauert es, einen Menschen zu schaffen und zu umsorgen bis er erwachsen ist? 20 bis 25 Jahre. Aber um ihn zu töten, brauchst du nur eine Waffe und einen Schuss. Es ist für manche Menschen einfacher schlecht zu sein als gut zu sein. Aber die Menschen, die Böses in die Welt bringen, werden nie glücklich sein.
Als Sie vor ein paar Jahren Auschwitz besucht haben, haben Sie auf der Selektionsrampe getanzt. Warum haben Sie das gemacht?
Ja, ich habe die Hora getanzt. Ich gehe jedes Jahr nach Auschwitz. Auf dieser Selektionsrampe, diesem kleinen Streifen Land, habe ich innerhalb von 30 Minuten meine ganze Familie verloren. Sie haben mir dort die Freude aus meinem Leben gerissen. Und ich wollte dort tanzen und die Freude am Leben reklamieren. Das war ein Symbol. Und ich werde nicht zulassen, dass diese Selektionsrampe und die Erinnerung daran, was dort passiert ist, mir meine Freude am Leben nimmt. Ich glaube, dass jeder Mensch auf dieser Erde das Menschrecht hat, glücklich zu sein, solange man nicht jemand anderen verletzt. Und eine lustige Geschichte: Ich war dort mit einer Gruppe von hundert Menschen, und es waren vier Mönche mit langem Gewändern da. Sie hörten, dass ich dort bin und wollten mit mir sprechen. Ich sagte: Wundervoll. Sie werden so toll aussehen, wenn sie mit mir die Hora tanzen. Aber ich konnte niemanden überzeugen, mitzumachen (lacht).
Es wird wahrscheinlich unmöglich sein, jemanden zu finden, der dort mit ihnen tanzt.
Und ich weiß nicht wieso. Ich dachte, wir könnten es in Erinnerung an die Opfer tun. Wie schade, dass man uns immer traurig will und weinend. Wir können ja beten. Und wir können tanzen.
Clara Akinyosoye, M.A., Studium der Publizistik und Kommunikationswissenschaft. Sie arbeitet bei orf.at. Seit 2017 Mitherausgeberin des Magazins "fresh - black austrian lifestyle" zuvor redaktionelle Leitung. Sie war Chefredakteurin von "M-Media", 2010-2012 leitete sie die Integrationsseite der Tageszeitung "Die Presse".
"Die Macht des Vergebens" von Eva Mozes Kor, 2016 im Benvenuto Verlag erschienen.
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