
Ich wollte flüchten oder sterben
Lamiya Aji Bashar, Angehörige der irakischen Jesiden, wurde 2014 vom IS verschleppt und versklavt. Eineinhalb Jahre später konnte sie sich durch Flucht befreien. Ein Gespräch über das Leben danach. Interview: Eva Maria Bachinger, Foto: Anna Beskova
Sie sind nun in Wien, reisen bald nach Paris. Sie werden durch die EU-Staaten herumgereicht. Wie erleben Sie die Begegnungen mit so vielen Menschen, mit Journalisten und Politikern?
Ich rede viel, aber leider gibt es bis jetzt keine konkreten Taten. Es passiert nichts. Ich bin nur ein jesidisches Mädchen, das ein Jahr und acht Monate in Gefangenschaft war. Es geht mir nicht um mich, ich möchte auf das Schicksal der Frauen und Mädchen aufmerksam machen, die vom IS wie Tiere behandelt werden. Es gibt Sklavenmärkte, da kann man Frauen kaufen und verkaufen. Manchmal werden Frauen bis zu dreimal am Tag verkauft. Ihr Preis: eine Schachtel Zigaretten. Mehrmals werden Frauen vergewaltigt, Mütter, Mädchen. So etwas darf nicht mehr passieren.
Wie geht es Ihnen, wenn Sie immer wieder davon erzählen müssen?
Es ist nicht einfach meine Geschichte zu erzählen, aber weil ich ein großes Ziel habe, geht es. Ich fühle mich nun kräftiger als nach der Flucht. Die Welt muss einfach wissen, was den Frauen passiert. Ich höre immer wieder die Schreie der Frauen und Kinder, und das ist meine große Motivation weiter zu machen. Ich kann in deren Namen sprechen, die Stimme für die Stimmlosen sein. Ich Alles was mir passiert ist, kann ich nicht vergessen. Die Vergewaltigungen, die Ermordungen, ich kann noch immer die Schreie hören. Es waren Mädchen, mit denen ich im Dorf aufgewachsen bin. Ich denke an die Frauen, die mit mir geflüchtet sind und auf eine Landmine gestiegen sind. Ich denke an alle. Unser Fluchtversuch war sehr gefährlich, wir haben es mehrmals versucht, ich habe nie gewusst, ob ich überlebe oder nicht. Aber ich war sicher, dass ich so nicht mehr leben kann. Ich wollte flüchten oder sterben.
Wie geht es Ihrer Familie? Wo ist sie jetzt?
Meine Eltern, meine zwei Brüder und meine Schwester sowie ihre vier Kinder sind in der Gewalt der IS. Ich weiß nicht, wie es ihnen geht, ob sie überhaupt noch leben. Von meiner Schwester habe ich zuletzt vor drei Monaten gehört. Ihr Peiniger hat 35.000 Dollar von uns verlangt um sie freizulassen. Als wir versucht haben das Geld aus unterschiedlichen Quellen aufzubringen, hat er gemeint, dass er nur die Frau verkaufe, für jedes Kind kommen jeweils 10.000 Dollar dazu. Dieser Deal ist dann nichts geworden. Zwei Schwestern und ein Bruder, der auch 19 Monate in Gefangenschaft war, sind durch ein Sonderkontingent von Baden-Württemberg nun bei mir.
Sie leben an einem geheimen Ort in Deutschland. Wie leben Sie mit der Angst?
Die Ängste sind da, aufgrund meiner Erlebnisse. Ich hätte mir nie vorstellen können, dass mir passieren könnte, was mir passiert ist. In Deutschland fühle ich mich nun aber wohl. Wir leben in Europa, Europa bedeutet ein Leben in Sicherheit und Frieden.
Sie und Nadia Murad haben den Sacharow-Preis der EU-Kommission bekommen. Was bedeutet Ihnen dieser Preis?
Der Preis war sehr wichtig für uns, eine große Unterstützung, um mit unserer Arbeit weiter zu machen. Er hat mir viel Kraft gegeben und er hat uns viele Türen geöffnet. Ich kann meine Geschichte und das Leiden der Jesiden verstärkt in die Öffentlichkeit bringen und wir bekommen mehr Aufmerksamkeit dafür.
Haben die vergewaltigten Frauen eine Chance auf ein normales Leben in der jesidischen Gesellschaft? Wie kann die Zukunft für sie aussehen?
Ich hoffe, dass alle Frauen befreit werden. Irgendwann werden sie auch in der Lage sein, so wie ich, offen darüber zu sprechen. Diese Frauen benötigen dringend medizinische und psychologische Betreuung, Rehabilitation und Therapien. Sie müssen vor allem in Sicherheit gebracht werden. Jene, die zwar befreit wurden, aber in Flüchtlingscamps leben, sind in einer sehr schwierigen Situation. Es ist grundsätzlich eine große Herausforderung für die jesidische Gemeinschaft. Jede Familie hat Betroffene, jeder kennt Betroffene. Die religiöse Führung akzeptiert die Frauen zwar, auf familiärer Ebene ist das unterschiedlich. Die Jesiden haben 73 Genozide überlebt und wir werden auch den 74. überleben.
Welche Verantwortung könnten die EU und Österreich für die jesidische Minderheit übernehmen?
Seit zweieinhalb Jahren schaut die Internationale Gemeinschaft zu, man tut aber nichts für die gefangenen Kinder und Frauen. Wir haben immer noch jesidische Gebiete, die nicht befreit sind. Viele Opfer wurden in Massengräbern verscharrt und bisher nicht exhumiert. Auf EU-Ebene kann ein Beitrag geleistet werden, indem eine internationale Schutzzone für die Minderheiten im Irak verwirklicht wird. Damit die Menschen in Frieden leben können. Unser Land soll befreit werden, denn ohne eine Schutzzone ist es uns nicht möglich, zurückzukehren. Die Menschen sollen nicht wieder Opfer von Massentötungen und Massenvergewaltigung werden, nur weil sie als Ungläubige angesehen werden. Man muss die Peiniger und Täter vor den Internationalen Strafgerichtshof bringen, damit es Gerechtigkeit geben kann. Wir wären gerne bereit, unsere Zeugenschaft abzulegen. Wenn der Täter nicht akzeptiert, dass er Fehler begangen hat, und uns nicht so akzeptiert, wie wir sind, dann wird es aber keine Versöhnung geben.
Zudem muss die Ideologie des IS bekämpft werden, sonst besteht diese Gefahr weiterhin, und zwar für die ganze Welt. Auch die Resettlement-Programme sollten stärker vorangetrieben werden. Es könnten in vielen EU-Staaten mehr betroffene Frauen aufgenommen werden. Mir ist aber auch wichtig, dass Familien vereint werden, dass auch Männer aufgenommen werden.
Mit welchen Politikern haben Sie in Österreich konkret gesprochen?
Ich bin zum zweiten Mal hier. Ein großes Anliegen wäre mir, ein bestimmtes Kontingent für betroffene Frauen, so wie es in Deutschland Baden-Württemberg gemacht hat. Da wurden rund 1.000 Frauen aufgenommen. In Österreich hatten wir Kontakt mit Rudi Anschober sowie Josef Pühringer. Wir haben in dieser Angelegenheit auch den Bundeskanzler getroffen und wir hatten Kontakt mit Staatssekretärin Muna Duzdar. Aber leider gibt es keine konkreten Antworten. Es wird nur jeden Tag geredet. Währenddessen befinden sich immer noch 3.400 Jesidinnen in den Händen des IS.
Wie sieht nun Ihre persönliche Zukunft aus?
Ich war in letzter Zeit mit der Behandlung meiner Augen beschäftigt, sie ist nun abgeschlossen. Meine Gesichtshaut wird mittels Laser behandelt, das wird noch etwa ein Jahr dauern. Ich bin viel unterwegs für das Anliegen von mir und Nadia Murad. Ich habe auch einen Deutschkurs begonnen. Ansonsten kann ich mich nicht mit meiner Zukunft beschäftigen, weil ein Teil meiner Familie noch in Gefangenschaft ist. Vor diesen schrecklichen Ereignissen war aber mein Wunsch, Lehrerin zu werden.
Zur Person:
Lamiya Aji Bashar, 1998 bei Sindschar im Irak geboren, gehört der Minderheit der Jesiden an. Sie wurde im August 2014 vom IS verschleppt und als Sex-Sklavin gefangen gehalten. Im April 2016 gelang ihr mit zwei anderen Frauen die Flucht. Eine von ihnen stieg auf eine Landmine, wodurch Bashar fast ihr Augenlicht verlor und Verbrennungen erlitt, die anderen Frauen kamen ums Leben. Die 19-Jährige beweist Tapferkeit und berichtet öffentlich von ihren traumatischen Erfahrungen. Für ihr Engagement wurde sie gemeinsam mit Nadia Murad am 13. Dezember 2016 mit dem Europäischen Menschenrechtspreis, dem Sacharow-Preis, ausgezeichnet.
Eva Maria Bachinger, geboren 1973, nach Auslandsaufenthalten in Israel und Italien arbeitet sie in Wien als Journalistin und Autorin. Buchveröffentlichungen, u.a.: „Die Integrationslüge“ (2012), „Wert und Würde – ein Zwischenruf“ (2016), jeweils gemeinsam mit Martin Schenk.
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