Macron, der Postdemokrat
Frankreichs neuer Präsident Emmanuel Macron entspricht genau jenem politischen Prototyp, den Colin Crouch als Symptom der Postdemokratie skizziert hat. Text: Sebastian Müller
Der Sieger der französischen Präsidentschaftswahlen ist die perfekte Marke. Ein Label, mit dem man alle Attribute in Verbindung bringen kann, die man in der heutigen Gesellschaft zum Erfolg braucht – vor allem aber, um eben Präsident zu werden.
Emmanuel Macron, er ist der für die liberalen Funktionseliten maßgeschneiderte Gegenentwurf zu Donald Trump und dnm „Rechtspopulismus“, die smarte Variante des Winnertyps. Nicht zufällig feiern ihn die Medien ekstatisch als: jung, modern, dynamisch, liberal, reformbereit, optimistisch, weltoffen, europäisch. Die Antipole definieren sich dabei nicht nur politisch: Trump, ein protzig seinen Reichtum zur Schau stellender, polternder, fast primitiv wirkender Machtmensch. Macron hingegen ein distinguierter Sunnyboy, der seine diskrete Zugehörigkeit zum französischen Establishment durch seinen jugendlichen Elan und seine Unverbrauchtheit wettzumachen weiß.
„Ein bisschen Mann. Ein bisschen Frau. Das ist die neue Mode. Androgyn.“ – Nicolas Sarkozy
Mystik statt Fakten
Dabei hilft ungemein, dass Macron keine Partei hinter sich hat, ganz so, als hätte er noch keine politischen Spuren hinterlassen. Er scheint nicht verhaftet mit den abgewirtschafteten Parteien der wankenden fünften Republik und ihrem Makel. Sein Glanz überstrahlt die Ironie, dass er es war, der als Berater und Wirtschaftsminister von Francois Hollande jenen neoliberalen Kurs einleitete, der nun für den Parti socialiste zum Fiasko geworden ist. Macron, nach dem das „Loi Macron“ benannt ist, also die in Gesetz gegossenen unbeliebten Wirtschaftsreformen unter Hollande, er kann sich hier offenbar auf die Demenz der WählerInnenschaft verlassen.
So macht der Ex-Investmentbanker den Pontius Pilatus. Er wäscht die Hände in Unschuld und fängt neu an, obwohl sein spät veröffentlichtes Reformprogramm dem von Hollande frappierend ähnelt. Und doch will seine neue Bewegung (En Marche) nichts mit der alten französischen Politikerkaste am Hut haben. Alles wird hipper und frischer inszeniert. Man könnte auch sagen: Alter Wein in neuen Schläuchen – nur mit weniger Steuern, mehr Europa, mehr Innovation, mehr Wirtschaftsliberalismus und mehr Widersprüchen.
Und die Franzosen spielen mit. Es ist das Spiel mit dem Image, in dem Inhalte ohnehin in den Hintergrund rutschen (sollen), das Spiel der Werbeindustrie, in der gegen alle Zweifel eine gute Kampagne hilft. Mit anderen Worten: Macron ist der Kandidat des perfektionierten Politentertainments, der Populist von oben.
„Die Politik ist Mystik. (…) Darin besteht mein ganzer Kampf. Es ist ein Irrtum zu glauben, dass das Programm im Kernstück einer Wahlkampagne steht.“ – Emmanuel Macron
Mystik statt Fakten? Damit landet man schneller wieder bei Trump, als einem lieb ist. Denn bei allen Unterschieden sind das die Parallelen zwischen den beiden Politikertypen. Macron hat seine Strategie aus dem seit jeher personalisierten US-Wahlkampf gezogen, der immer mehr auch in Europa zum Maßstab wird. Das Auftreten als Marke, die Verengung auf eine „christusähnliche“ Person und ihre Entertainmentfähigkeiten, sie hat – wenn auch auf andere Art und Weise – ebenso Trump ausgezeichnet. Trump bot eine Show für das weiße Proletariat, „EM“, so das Kürzel von Macron, für das „bunte“, urbane Bildungsbürgertum. Jeder konsumiert nach seiner Façon.
Und auch Trump hatte nicht wirklich eine Partei hinter sich. Die Republikaner gingen auf Distanz. Mehr als bei jedem anderen Präsidentschaftskandidaten war es eine One-Man-Show. Trump rekrutierte seine Berater, Minister und Mitarbeiter aus Emporkömmlingen, politischen Outlaws und Unternehmern aus der Wallstreet.
Ein Vakuum für Lobbyisten
Macron will mit En Marche ganz ähnlich vorgehen. Die mittlerweile rund 230.000 Mitglieder seiner Bewegung, die Macron wie ein Start-Up führt, konnten sich für die Listenplätze der Parlamentswahlen bewerben. Macron will zumindest zur Hälfte „VertreterInnen der Zivilgesellschaft“ auswählen, das heißt KandidatInnen, die kein politisches Mandat innegehabt haben – und mit Parität von Männern und Frauen. Ohne Parteiapparat ist Macron zudem mehr als andere auf Spendengelder angewiesen (Mitgliedschaften in der Organisation sind kostenlos und mit paralleler Parteizugehörigkeit möglich). Im Eintreiben der Gelder ist er indes erfolgreich – über 6,5 Millionen Euro sollen aus dieser Quelle geflossen sein.
En Marche will in allen 577 Wahlkreisen Kandidaten aufstellen. Bisher ist nur ein Teil der Namen bekannt. Um als Staatspräsident handlungsfähig zu sein, wäre er auf eine verlässliche Mehrheit im bisher parteipolitisch dominierten Parlament angewiesen. Bisher ist er aber ohne wirkliche Basis, was einem postdemokratischen Trend entsprechen würde: Die Parteibasis verliert im politischen Willensbildungsprozess an Einfluss und Bedeutung.
Colin Crouch beschrieb diese Entwicklung bereits in seinem 2004 erschienenen Büchlein Post Democracy, welches vier Jahre später in deutscher Sprache erschien und seitdem nicht mehr aus dem politologischen Diskurs wegzudenken ist. Konkurrierende Teams aus PR-ExpertInnen kontrollieren die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt. Im Schatten dieser Inszenierung wird die reale Politik in den Hinterzimmern von den Funktionseliten gemacht, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten. Damit ist der Niedergang der etablierten, insbesondere aber der sozialdemokratischen Parteien ein Symptom der „Krise des egalitären, an politischer und ökonomischer Gleichheit ausgerichteten Projekts“ (Crouch).
Macron ist erklärtermaßen kein Freund des Egalitarismus. Um divergierende Interessen von AnhängerInnen, Mitgliedern und AktivistInnen zufriedenzustellen, setzt En Marche als Prototyp neuer Bewegungen nicht mehr auf zähe und langwierige deliberative Aushandlungs- und Konsolidierungsprozesse, sondern auf möglichst emotionale Botschaften, die im Kern alles oder auch nichts bedeuten können. Das beste Beispiel hierfür ist die deutsche Initiative „Pulse of Europe“, die nicht von ungefähr Überschneidungen mit En Marche hat.
„Sie haben ein unglaubliches Talent. Sie reden sieben Minuten und ich bin nicht in der Lage, ihre Gedanken zusammenzufassen. (…) Sie haben nichts gesagt, nur absolute Leere, verblüffend.“ – Marine Le Pen zu Emmanuel Macron
Pulse of Europe wie auch En Marche kommen auf den ersten Blick wie Bürgerbewegungen daher, welche die positiven Rechte einer lebendigen Demokratie wahrnehmen. Auf den zweiten Blick aber wird deren vertikale Struktur deutlich. Es sind keine Graswurzelbewegungen, sondern sie sind von „oben“ inszeniert. Ein Pendant ist die Tea-Party-Bewegung in den USA, die von den Koch-Milliardären gesponsert wird. Ein wirklicher inhaltlicher Prozess ist bei all diesen Bewegungen nicht beabsichtigt, zumal sie allesamt keinen Beitrag zur Überwindung der Krise des egalitären Projekts leisten.
Vielmehr feiern ihre AnhängerInnen, um im Duktus von Crouch zu sprechen, die „Ablehnung des big governments“ und „die nichtpolitischen Tugenden der Zivilgesellschaft“. Die Analogie mit David Camerons neoliberalen Entwurf der „Big Society“, der helfen sollte, die Lücken des zum Rückzug gedrängten Wohlfahrtstaates zu schließen, drängt sich hier geradezu auf. Es ist überflüssig zu erwähnen, dass auch Macron die Axt an den öffentlichen Sektor legen will.
„Vitalität dieser Art zeugt von einer starken liberalen Gesellschaft – doch dies ist nicht dasselbe wie eine starke Demokratie.“ – Colin Crouch
Ferner eignet sich eine Bewegung wie En Marche – ganz ähnlich wie im übrigen Syriza – kaum für stabiles und fokussiertes Regieren. Keine feste Basis, kaum erfahrenes und qualifiziertes Spitzenpersonal, eine Regierung, die zur Hälfte aus „zivilgesellschaftlichen“ VertreterInnen bestehen soll, hohe Spenden, zudem der wirtschaftsnahe Background von Macron selbst – all das schreit nach einem Einfallstor für Lobbyisten, für eine weiter voranschreitende Vermengung von politischer und wirtschaftlicher Sphäre oder mehr noch, einer Wirtschaftsregierung. Gesetze, die den Namen von Konzernbossen wie Peter Hartz tragen, lassen grüßen.
Einen untrüglichen Vorgeschmack darauf geben wie immer die Börsen. Schon der Erfolg Macrons im ersten Wahlgang ließ die US-Aktien „auf der Macron-Welle“ schwimmen, wie es das Handelsblatt formulierte. Die Wallstreet mag traditionell KandidatInnen, von denen man eine kapitalfreundliche Politik erwarten kann. Selbst wenn Macron sein Wahlprogramm noch nicht offengelegt hätte, könnte man so eine Ahnung davon bekommen, was er unter „Reformen“ versteht.
Tektonische Plattenverschiebungen
Doch die Sache um Macron hat noch eine weitere Dimension. Sie ist Teil einer größeren tektonischen Plattenverschiebung, die ebenso wenig eine Stärkung der Demokratie bedeutet. Wie Will Denayer schreibt, bevorzugt die französische Elite eine Koalition zwischen den „modernen Linken“ und den „progressiven Rechten“, um die Pattsituation der fünften Republik zu brechen. Damit sind die „reformistischen“ Kräfte um die Sozialisten sowie die Konservativen um den hardcore-neoliberalen Francois Fillon gemeint, die sich nun um En Marche versammeln.
Die politischen Profile der verschiedenen europäischen Parteien verblassen schon länger. Macron spricht ja nicht ungefähr davon, dass sich seine Bewegung keiner der beiden Kategorien zuordnen ließe – „nicht rechts, nicht links“, ein bisschen Mitterand hier und ein wenig d’Estaing dort, kurz: „Pragmatismus“.
Was Macron als „Pragmatismus“ umschreibt, ist in Wahrheit aber das immer klarere Konturen annehmende Spiegelbild einer Neuausrichtung und Umwandlung der westlichen Politik. Hier eint sich nicht nur ein Lager, das eigentlich längst schon zusammengehört. Nun scheint auch die alte Konfliktlinie zwischen links und rechts zu verschwinden. Möglicherweise wird sie durch eine neue ersetzt, die an dunklere Zeiten des Manchester-Kapitalismus erinnert – die vordemokratische Trennung von Volk und Eliten.
„Die alten links-rechts-Debatten haben ihre Nützlichkeit überlebt, und die Primärwahlen haben gezeigt, dass Debatten über Säkularismus oder Einwanderung, sowie Globalisierung oder generalisierte Deregulierung eine fundamentale und transversale Kluft darstellen, die nicht mehr zwischen links und rechts liegt, sondern zwischen Patrioten und Globalisten.“ – Marine le Pen
In diesem sozioökonomischen Kulturkampf ist nicht allein Macron der Kandidat der Sieger. Durch die Neuausrichtung finden sich weite Teile der heute postmodernen Linken, die einst für die Verlierer der Gesellschaft einstanden, zumindest ideologisch auf der Seite der globalistischen Gewinner wieder – und merken es nicht einmal. Ein Triumph des liberalen Establishments, dass es – erfolgreich transportiert über die veröffentlichte Meinung – geschafft hat, durch eine schärfere Munitionierung in den Debatten Begriffe und deren Bedeutung manipulativ zu verschieben.
So kann man sich durchaus fragen, ob Le Pen, die die französische Wirtschaft vor globalen Verwerfungen schützen, die sozialen Regulierungen des Arbeitsmarktes erhalten und wieder mehr staatliche Initiative will, allein deswegen als „rechtsextrem“ gelten kann? Während Macron, der den Arbeitsmarkt deregulieren, die Wirtschaft dem globalen Wettbewerb noch mehr öffnen sowie 120.000 Stellen im öffentlichen Dienst streichen will, mit dem bis zur Unkenntlichkeit verkümmerten Label „Sozialdemokrat“ oder zumindest „sozialliberal“ versehen wird.
Mit etwas Gespür und politischer Antizipation lässt sich erahnen, dass der diskursiv-strategische Schritt, eine ohnehin schon immer mit Argwohn betrachtete korporatistische und keynesianische Wirtschaftspolitik mit Verweis auf Le Pen und Hitler mit Faschismus gleichzusetzen, nicht mehr weit ist.
Der Aufstieg von Macron und die grundlegende Veränderung der politischen Koordinaten nicht nur in Frankreich sind das Sinnbild einer endgültigen Aufkündigung des sozialen Kompromisses der Nachkriegszeit und eines „Substanzverlustes der Demokratie“ (Crouch). Der Klassenkampf scheint auf die Bühne des Westens zurückzukehren. Das auf den ersten Blick Paradoxe dabei: Es ist der Front National, der jetzt auf der Seite der Prekarisierten und Globalisierungsverlierer zu stehen scheint.
Der Ökonom Nikolaus Kowall geht, nicht ohne gleichzeitig vor einer nationalistischen Instrumentalisierung zu warnen, noch weiter:
„Der europäische Rechtspopulismus ist die einzige potente politische Kraft, die verlautbart, dass die Globalisierung kein fremdbestimmtes Schicksal ist. Folgerichtig fordert er, dass die Politik das Primat über die Wirtschaft wiedererlangen soll.“
Doch warum auch sollten sich Globalisierungsgewinner an die gestaltende Kraft nationaler Demokratien gebunden fühlen? Hier löst sich die obige Paradoxie dann doch schnell wieder auf.
Sebastian Müller studierte Geschichte, Politikwissenschaft und Germanistik in Darmstadt. Als Autor befasst er sich insbesondere mit den Wechselwirkungen von Ökonomie und Gesellschaft sowie Wirtschaftsgeschichte. Seit 2016 ist er Redakteur für das wirtschaftspolitische Online-Magazin "Makroskop", für das dieser Beitrag erschien. Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Autors. Im Oktober 2016 ist sein Buch „Der Anbruch des Neoliberalismus“ im Promedia Verlag erschienen.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo