
Kraftwerk Lichtermeer
Das Lichtermeer wirkte wie ein Kraftwerk, das Energie lieferte und
neue Initiativen noch länger nähren sollte. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Martin Schenk
Was blieb zurück von den tausenden Kerzen, die für Menschlichkeit brannten? Heiße Luft? Sobald die letzte Kerze erloschen war, hatten sich die parteipolitischen Strategen und medialen Selbstdarsteller schon längst verabschiedet. Allen aber, denen reale Fortschritte bei Menschenrechten und spürbarer sozialer Ausgleich ein zentrales Anliegen waren, wussten, jetzt fängt es erst an. Eine große Aufbruchstimmung lag in der Luft.
Martin Schenk (Mitte): Eine große Aufbruchsstimmung lag in der Luft
Das Lichtermeer wirkte wie ein Kraftwerk, das Energie lieferte und neue Initiativen noch länger nähren sollte. Mit dem Schwung der Hunderttausenden startete das Integrationshaus, wurde das Gesundheitszentrum für Folter- und Kriegsüberlebende „Hemayat“ gegründet und die große UN-Menschenrechtskonferenz in Wien bespielt: „Alle Menschenrechte für alle“.
Federführend gestalteten wir das Programm für die über tausendfünfhundert zivilgesellschaftlichen Organisationen vor Ort. Und luden zum Konzert auf die Donauinsel mit der südafrikanischen Sängerin Miriam Makeba, Kämpferin gegen das Apartheid-Regime. Das Ergebnis der Wiener Konferenz „All Human Rights for All“ wirkt noch immer nach, aktuell in der Debatte, soziale Menschenrechte in die österreichische Verfassung zu schreiben. Auch das Integrationshaus und Hemayat gibt es heute noch – zum Wohle tausender Menschen. Das Kraftwerk Lichtermeer lieferte noch Energie für weitere Initiativen.
Zwei Jahre danach wurde die Armutskonferenz gegründet, die ein bis dahin verschwiegenes Thema in Österreich auf die politische Tagesordnung setzte. Mit der Armutskonferenz startete die empirische Armutsforschung hierzulande, begann die strukturierte Arbeit an Maßnahmen zur Armutsbekämpfung und begründete sich ein lebendiges Labor hilfreicher sozialer Erfindungen; wie zum Beispiel die Einführung des Kulturpasses „Hunger auf Kunst und Kultur“ für Leute mit Niedrigeinkommen. Die handelnden Personen, die all das ins Leben riefen, kannten sich vom Lichtermeer. Wir stellten eine großformatige Fotoausstellung zum Thema „Armut in Österreich“ auf die Räder eines fahrbaren Zeltwagens, der durch Österreichs Städte tourte. Bereits im Jahr 1994 wurden da „Maßnahmen gegen Kinderarmut“ und ein „kindbezogenes Existenzminimum“ vorgeschlagen. Das wird jetzt unter dem Titel „Kindergrundsicherung“ verhandelt und hat es gerade ins deutsche Regierungsprogramm geschafft. Im selben Jahr im Dezember errichtete eine Aktionsgruppe Zelte unter dem Motto „Herbergsuche 94“ gegen den „sozialen Winter“ mitten im Regierungsviertel, es ging um leistbares Wohnen. Um das geht es heute umso mehr.
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ALL HUMAN RIGHTS FOR ALL!
WELTKONFERENZ ÜBER MENSCHENRECHTE 1993 IN WIEN
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Die Kerzen des Lichtermeeres waren schnell verbrannt, aber die Netze, Freundschaften und Kooperationserfahrungen leuchteten weiter. Sie bereiteten den Weg für eine Reihe wichtiger Initiativen, die heute noch lebendig sind. Sie setzten Impulse, die damals noch neu und ungehört waren. Sie stellten Fragen, die heute aktueller sind denn je. Das Lichtermeer selbst bot eine ambivalente Erfahrung. Es inszenierte auch die reinen Seelen, bot das Schauspiel kollektiver Selbstreinigung, eine Art öffentliches Fegefeuer, das das eigene Gut-Sein brennend feierte, statt soziale Fragen zu erhellen. Das war die lähmende Seite. Andererseits aber bildete es ein Kraftwerk, das Menschen zusammenbrachte und Mut machte, Energie lieferte für neue Wege und Aufbrüche. Da lag etwas in der Luft. Wir wussten, es fängt jetzt erst an.
Martin Schenk war nach dem Lichtermeer von 1993 bis 1995 Vorsitzender von SOS Mitmensch. Er ist Sozialexperte sowie Stellevertretender Direktor der Diakonie Österreich und Mitbegründer der „Armutskonferenz“.
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