
Recht muss Recht werden
Am 28. Jänner 2021 wurde die damals 12-jährige und in Wien aufgewachsene Tina unter Protest nach Georgien abgeschoben. Etwa ein Jahr später entschied das Bundesverwaltungsgericht, dass die Abschiebung rechtswidrig war. MO-Magazin für Menschenrechte hat sich angesehen, was dieses Urteil für die künftige Rolle des Kindeswohls bei Bleiberechtsverfahren bedeutet. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Valentine Auer, Fotos: M. Spitzauer
Die damals 12-jährige Tina, die in Österreich aufgewachsen ist, wurde widerrechtlich mit ihrer
Familie abgeschoben. Seit der Revision des Urteils lebt sie wieder hier bei einer Gastfamilie.
Er würde Amtsmissbrauch begehen, hätte er die Abschiebung gestoppt. Ein klarer Fall von Asylmissbrauch, die Eltern seien schuld. Recht müsse nun mal Recht bleiben. In etwa so kommentierte der damalige Innenminister und heutige Bundeskanzler Karl Nehammer die Abschiebung nach Georgien der in Wien aufgewachsenen Tina, ihrer Schwester und ihrer Mutter. Demgegenüber stand heftige Kritik von verschiedenen Seiten. Zum Beispiel von Tinas Mitschüler Theo Haas: „Wenn das, was hier stattgefunden hat, gesetzeskonform ist, dann stimmt etwas mit den Gesetzen nicht“, entgegnete er damals Karl Nehammer.
Rechtswidrige Abschiebung
Mittlerweile ist einige Zeit vergangen und es stellt sich heraus: Die Gesetze stimmen. Die Umsetzung nicht. Das Bundesverwaltungsgericht (BVwG) entschied im März 2022, dass die Abschiebung rechtswidrig war, dass eine erneute Prüfung des Kindeswohls vor der Abschiebung notwendig gewesen wäre und bezieht sich dabei auf Tinas „starke Verwurzelung“ und die „grundsätzliche Sozialisierung“ in Österreich. Ein Urteil, das überraschend kam, war es doch das Bundesverwaltungsgericht, das die aufenthaltsbeendenden Maßnahmen „aus dem Blickwinkel des Kindeswohles“ als zulässig einstufte.
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„Wenn das, was hier stattgefunden hat, gesetzeskonform ist,
dann stimmt etwas mit den Gesetzen nicht.“ Theo Haas
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Dieser „Blickwinkel des Kindeswohles“ wurde dabei in zwei „nichts aussagenden Textbausteinen“ abgetan, erklärt Tinas Rechtsanwalt Wilfried Embacher. Mit einer tatsächlichen Überprüfung des Kindeswohls hatte das nichts zu tun. Dementsprechend zeigt er sich wenig überrascht, dass das BVwG schließlich anders entschied. „Die Freude war natürlich sehr groß“, erzählt er. „Es war aber auch der einzig logische Ausgang, denn was damals entschieden wurde, war ein rechtlicher Unsinn.“
Ein rechtlicher Unsinn mit konkreten Auswirkungen. In diesem Fall statt für Tina. Etwa ein Jahr lang war sie in Georgien, getrennt von ihren besten Freund*innen, von ihrer gewohnten Umgebung, von ihrer Schule. Mittlerweile ist sie wieder in Wien, derzeit noch ohne Mutter und Schwester. Dennoch. Für Embacher ist die Entscheidung ein „Durchbruch für Kinderrechte“. Andere von Abschiebung betroffene Minderjährige, die in Österreich sozialisiert wurden, sind nach wie vor in einem Land, das sie nicht kennen, das aber – geht es nach den österreichischen Behörden – ihre Heimat sein soll.
Tina hat ein Schülerinnenvisum erhalten und ist zurück in Wien. Neben Tina,
Integrationsstadtrat Christoph Wiederkehr.
Kinderrechte nicht berücksichtigt
Tina ist also bei Weitem kein Einzelschicksal. Die mediale Aufmerksamkeit ihres Falls bewirkte jedoch eine umfassende Auseinandersetzung mit der Frage, wieso in Österreich aufgewachsene Kinder abgeschoben werden können. Auch das Einrichten der Kindeswohlkommission, die die rechtlichen Rahmenbedingungen für Kinder und Jugendliche in Asyl- und Bleiberechtsverfahren überprüfen soll, beruht auf diesem Fall. Im Juli 2021 veröffentlichte die Kommission ihren Abschlussbericht. Das Ergebnis: Die derzeitige Lage ist „unbefriedigend“.
Grund dafür seien nicht fehlende Gesetze, sondern der Vollzug, sagt Kommissionsvorsitzende und ehemalige Präsidentin des Obersten Gerichtshofes Irmgard Griss: „Gesetzesänderungen wären kaum notwendig. Das Problem ist, dass das Kindeswohl nicht die Beachtung erhält, die rechtlich vorgesehen ist. Das muss sich ändern.“ Konkret bedeutet das, dass das Wohl des Kindes immer vorrangig zu berücksichtigen ist. Kinder sind nicht einfach Anhängsel ihrer Eltern. Sie sind Rechtssubjekte, wie es im juristischen Jargon heißt. Sie besitzen eigene Rechte, die durch die Kinderrechtskonvention in der Verfassung verankert sind.
Hinzu kommen klare Kriterien, die im §138 des Allgemeinen Bürgerlichen Gesetzbuches (ABGB) festgelegt sind. Das Kindeswohl muss demnach in allen Angelegenheiten, die minderjährige Kinder betreffen, miteinbezogen werden – und zwar „als leitender Gesichtspunkt“. „Das ABGB stellt einen umfassenden Katalog zur Verfügung mit Aspekten, die geprüft werden müssen, um die Wahrung des Kindeswohls festzustellen: Lebt das Kind in einem angemessenen Umfeld, ist es vor Gefährdungen geschützt, hat es entsprechende Bildungschancen?“, erklärt Griss. Trotz dieser klaren Gesetzeslage wurde im Fall Tina der Fokus auf das Verhalten der Eltern gelegt und nicht auf das Wohl und die Bedürfnisse der Schülerin.
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Der Fall Tina sorgte für Aufmerksamkeit: Warum können
in Österreich aufgewachsene Kinder abgeschoben werden?
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Im Gegenteil. Der §138 legt auch fest, dass die Meinung des Kindes zu berücksichtigen ist. Tina wurde im Laufe des Verfahrens kein einziges Mal befragt. Auch das keine Seltenheit, weiß Embacher: „Obwohl es geltende Rechtslage ist, werden betroffene Kinder und Jugendliche nicht angehört. Man muss sich jedoch mit den Betroffenen auseinandersetzen, um das Kindeswohl zu überprüfen. Die Bedürfnisse, zum Beispiel in puncto Schul- oder Ortswechsel, kann man nur durch eine Befragung des Kindes herausfinden.“
Positive Trendwende
Einen Bewusstseinswandel beim juristischen Personal, aber auch bei den Referent*innen des Bundesamts für Fremden- und Asylwesen. Das wünschen sich beide, Embacher genauso wie Griss. „Vorsichtig optimistisch“ ist der Rechtsanwalt bereits. Er glaubt zwar nicht, dass die Arbeit der Kindeswohlkommission die BVwG-Entscheidung im Fall Tina beeinflusste, aber sehr wohl die Rechtsprechung insgesamt.
Tina, wieder vereint mit ihren Freundinnen. Obwohl die Abschiebung rechtswidrig war, dürfen Tinas
Mutter und Schwestern nicht nach Österreich zurückkommen.
„Das Kindeswohl kann nicht mehr so stark ignoriert werden wie früher. Zumindest formal müssen Kinder bei Asylverfahren zukünftig anders behandelt werden. Inhaltlich wird man sich im Einzelfall weiterstreiten. Was aber nicht mehr möglich sein wird, sind solche nichts aussagenden Textbausteine und Scheinargumente. Und sollte das doch der Fall sein, werden die Gerichte hoffentlich massiver eingreifen“, so die Einschätzung von Embacher.
Von ähnlichen Entwicklungen nach der Revision hatte auch Griss berichtet: „Ich höre in letzter Zeit immer wieder von Entscheidungen, in denen die Kinderrechte sorgfältig geprüft wurden. Ich denke, dass durch die Arbeit der Kommission ein Bewusstseinswandel stattfindet. Zumindest hoffe ich das.“ Was die Empfehlungen der Kindeswohlkommission betrifft, kommt ebenfalls Bewegung rein.
So erhalten Richter*innen mittlerweile spezielle Fortbildungen, die sie für Befragungen von Kindern und Jugendlichen vorbereiten sollen. Allerdings – wie auch die Schulungen im Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl (BFA) – nicht verpflichtend und daher wohl vor allem von jenen besucht, die bereits sensibilisiert sind. Beim BFA wurde außerdem das „Vier-Augen-Prinzip“, das bis vor Kurzem nur bei positiven Entscheiden angewandt wurde, auf alle Entscheidungen ausgeweitet. Dadurch ist zumindest nicht nur mehr eine Referentin oder ein Referent für die Frage zuständig, ob minderjährige Kinder Österreich verlassen müssen oder nicht. Und auch die von der Kommission geforderten Richtlinien wurden vom BFA erarbeitet. „Damit wird gewährleistet, dass in jedem Einzelfall das Kindeswohl nach denselben Kriterien beurteilt wird“, heißt es dazu vom BFA.
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Das Problem ist, dass Kindeswohl nicht die Beachtung erhält,
die rechtlich vorgesehen ist.
Irmgard Griss
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Wirksames Kinder-Monitoring
„Die wichtigste Empfehlung aus unserem Bericht wartet allerdings noch immer auf ihre Umsetzung“, so Griss. Damit meint sie ein über das Asylthema hinausgehendes Kinderrechte-Monitoring. Für Menschen mit Behinderung gibt es einen solchen Ausschuss bereits. Die Erfahrungen der letzten Jahre zeigen, dass sich die Situation für Menschen mit Behinderung dadurch stark verbesserte. Ein wirksames Monitoring ist auch für die Belange von Kindern und Jugendlichen dringend notwendig. Laut Familienministerium gibt es das. Griss entgegnet, dass dieses angebliche Kinder-Monitoring nicht wirksam sei: „Zwei Mitglieder der Kindeswohlkommission sitzen in diesem Gremium. Sie treffen sich vielleicht zweimal im Jahr und haben kein Budget. Es fehlt Zeit und Geld, um sinnvoll arbeiten zu können.“ Sinnvoll Arbeiten meint, genau und kontinuierlich zu beobachten, wie mit Rechten der Kinder in der Gesetzgebung, aber eben auch im Vollzug umgegangen wird. „Damit Kinderrechte den Wert erhalten, der ihnen zusteht“, sagt Griss. Damit das Wohl der Kinder nicht mehr in zwei, drei Sätzen abgehandelt werden kann, sondern – und das ist wohl der passendere Kommentar rund um die Kindeswohl-Debatte – ihre Rechte endlich zu Recht werden.
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