Aufschrei gesucht
Femizide nehmen kein Ende. Genauso wenig wie Gewalt gegen Frauen. Sexuelle Belästigung ist für viele immer noch Alltag. Während Gewaltschutzeinrichtungen mehr Geld und Zusammenarbeit fordern, bringen Aktivistinnen ihre Wut wortwörtlich auf die Straße. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Milena Österreicher
Die Statistik zeigt: Das Problem der Gewalt gegen Frauen – verbal und pyhsisch – nimmt nicht ab.
Gestern war ich wieder ankreiden“, erzählt Anna Majcan. Die Grazerin ist Teil der Initiative „Catcalls of Graz“. „Catcalling“ wird sexuelle Belästigung in der Öffentlichkeit genannt. Jede Woche bekommt die Initiative, die sich 2019 nach dem New Yorker Vorbild „Catcalls of New York“ gegründet hat, zwischen fünf und zehn Nachrichten auf Instagram. Frauen schildern darin ihre Erlebnisse mit sexueller Belästigung.
Einmal pro Woche strömen die Aktivistinnen in Graz aus und schreiben die Sprüche an den Ort des Geschehens. Während sie kreiden, hören sie zumeist negative Reaktionen von Passant*innen. „Habt ihr Jungen nichts Besseres zu tun?“ oder „Wenn ihr euch so kurze Sachen anzieht, selbst Schuld.“ Die jungen Frauen aus Graz sind nicht die einzigen, die ihre Wut über das Frauenbild und die (verbale) Gewalt in der Öffentlichkeit zum Ausdruck bringen. Auch das Kollektiv „Claim the Space“ zieht regelmäßig nach Femiziden – das heißt nach einem Mord an einer Frau aufgrund ihres Geschlechts – durch die Straßen Wiens und ruft: „Nehmt ihr uns eine, antworten wir alle!“
Gesellschaftsbilder
Ein Blick auf die Statistik zeigt, dass das Problem der Gewalt gegen Frauen – verbal und physisch – nicht abnimmt. Im Gegenteil: Zwischen 2014 und 2018 stieg die Zahl der Frauenmorde um mehr als das Doppelte – von 19 auf 41 Fälle. Im aktuellen Jahr sind es laut dem Verein Autonome Österreichische Frauenhäuser bereits 22 Morde, die höchstwahrscheinlich als Femizid eingestuft werden können.
„Dass Gewalt gegen Frauen zunimmt, ist ein gesellschaftliches Problem, das einerseits auf strukturellen Ungleichheiten in der Gesellschaft – Stichwort ungleicher Verdienst und wenige Frauen in Machtpositionen – beruht“, meint Politikwissenschafterin Stefanie Wöhl, die derzeit den Jean Monnet-Lehrstuhl für „Diversität und Soziale Kohäsion in der Europäischen Union“ innehat. „Es liegt aber auch an der Vorstellung, die wir in Österreich über Frauen haben: Was wir über sie denken und von ihnen erwarten.“
Laut einer Studie der EU-Grundrechteagentur aus dem Jahr 2014 hat hierzulande fast jede fünfte Frau seit ihrem 15. Lebensjahr körperliche und/ oder sexuelle Gewalt erlebt. Damit liegt Österreich im EU-Vergleich im Mittelfeld. Doch laut Statistik Austria ist Österreich der einzige Mitgliedsstaat, in dem es mehr Morde an Frauen als an Männern gab. Das ist unüblich angesichts der Tatsache, dass Männer überproportional häufig nicht nur Täter, sondern auch Opfer von Gewaltverbrechen sind.
Die Initiative „Catcalls of Graz“ schreibt einmal pro Woche Sprüche
sexueller Belästigung an den Ort des Geschehens.
Femizide an älteren Frauen
„In Krisenzeiten steigt erfahrungsgemäß die Gewaltbereitschaft“, berichtet Maria Rösslhumer, Geschäftsführerin des Vereins Autonome Österreichische Frauenhäuser (AÖF). Bereits während der Finanzkrise 2007/2008 sei dieses Phänomen zu beobachten gewesen. Rösslhumer weist auf ein weiteres Phänomen der Coronakrise hin: viele Femizide an älteren Frauen. Die Hälfte, also zehn der heurigen 20 Morde wurden an Frauen über 60 Jahren begangen, vergangenes Jahr war es ein Drittel. „Es wird viel zu wenig darauf geachtet, wie es älteren Menschen geht“, sagt Rösslhumer. Pflege im Alter sei eine große Herausforderung und oft eine Überforderung, auch für männliche Partner. Anstatt Hilfe in Anspruch zu nehmen, neigen manche zu Gewalttaten und nehmen Frauen mit in den Tod. Rösslhumer fehlt ein politischer Aufschrei. 2020 schnürte die türkis-grüne Regierung ein Gewaltschutzpaket mit 24,6 Millionen Euro Budget und nahm wieder die Fallkonferenzen, bei denen sich Polizei, Justiz und Interventionsstellen regelmäßig trafen und austauschten, auf, was unter Türkis-Blau abgeschafft worden war. Jedoch können die Treffen nun nur noch von der Sicherheitspolizeibehörde einberufen werden.
„Die Gesetze in Österreich sind im Grunde gut, es scheitert aber oft an der Umsetzung“, beschreibt Maria Rösslhumer die Lage. Die Polizei kann gegen Gewalttäter eine Wegweisung, ein Betretungsverbot sowie ein Annäherungsverbot aussprechen. Diese müssen dann die Wohnung verlassen und dürfen sie zumindest zwei Wochen lang nicht betreten. „Aber gefährliche Täter, die wegen einer Straftat angezeigt werden, werden nur auf freiem Fuß angezeigt. Es besteht weiterhin die Möglichkeit, die Frau zu bedrohen oder sogar umzubringen“, beklagt Rösslhumer. Auch die hohe Anzeigeneinstellung sei immer wieder eine Demütigung für Frauen. Es fehle eine effektive Zusammenarbeit zwischen allen Institutionen, mehr Budget sowie eine konstante Evaluierung der Maßnahmen. Etwa der App, die Anfang des Frühjahres vom Innenministerium präsentiert wurde. Mit ihr kann ein „stiller Notruf “ getätigt und die Polizei unauffällig gerufen werden. „Was sollen hier ältere Frauen, die etwa isoliert sind oder keinen Zugang zu digitalen Medien haben, machen?“, fragt die AÖF-Leiterin.
Andrea Brem: sieht automatisch geteilte Obsorge nach Trennung skeptisch. |
Maria Rösslhumer (AÖF): Sieht im Bereich Opferschutz ein Vorbild in Spanien. |
Erich Lehner, Dachverband Männerarbeit: |
Vorbild im Süden
Ein Vorbild im Bereich Opferschutz sieht Maria Rösslhumer in Spanien. Seit 2004 gibt es dort Gerichte, die sich ausschließlich mit Fällen häuslicher Gewalt befassen, Richter*innen werden sensibilisiert, Verfahren sind in der Regel kürzer. „Das gibt das Gefühl, ernst genommen zu werden“, so Rösslhumer.
Doch nicht alles läuft rund auf der iberischen Halbinsel. Ende vergangenen Jahres forderten acht UN-Sonderberichterstatter* innen, dass das Land Kinder besser vor gewalttätigen Vätern schützen müsse. Die spanische Justiz spricht diesen Vätern immer wieder das geteilte oder das alleinige Sorgerecht zu, obwohl häusliche Gewalt oder sexueller Missbrauch nachgewiesen werden kann. Auch in Österreich wird diskutiert: Eine automatisch geteilte Obsorge nach Trennung steht im Raum. Andrea Brem, Leiterin der Wiener Frauenhäuser, sieht das kritisch: „Diese Regelung ist ideal für Kinder, wo sich die Eltern gut trennen. Aber wo Gewalt im Spiel ist, wird es unheimlich schwierig, die Beziehung zum Täter zu kappen.“ Frauen und Kinder wären so weiter Drangsalierungen ausgesetzt und unter Kontrolle des Ex- Partners.
In anderen Bereichen blickt auch Andrea Brem gespannt auf die Entwicklungen in Spanien: „Es wird mit großen Entwürfen an einer feministischen Gesellschaft gearbeitet.“ Das südeuropäische Land ließ in den vergangenen Monaten mit einigen Gesetzen und Initiativen aufhorchen: Krankenstand bei Periodenschmerzen, sicherer Schwangerschaftsabbruch ab 16 Jahren, Verbot von „Catcalling“, keine geschlechtsspezifische Spielzeugwerbung mehr. „Es gibt dort eine Gleichstellungsministerin, die ihre Aufgabe tatsächlich wahrnimmt“, so Brem.
Gleichstellung gegen Gewalt
Das Thema Gleichstellung ist auch für Erich Lehner, Vorsitzender des Dachverbandes Männerarbeit Österreich, Priorität. „Studien aus Staaten wie Norwegen zeigen, dass mehr Gleichstellung zu weniger Männergewalt führen kann“, so der Psychoanalytiker. Als akute Maßnahmen gegen Gewalt an Frauen sollte mehr in Gewaltschutzeinrichtungen sowie Täterarbeit investiert werden.
Langfristig müsse sich aber das Männlichkeitsbild ändern, und zwar dringend. „In Österreich muss ein Mann immer noch dominant, durchsetzungsstark und konkurrenzfähig sein“, meint Lehner. Stattdessen sollte sich das Bild aber hin zu einem fürsorgeorientierten Mann wenden.
Und es braucht mehr als einen Mentalitätswechsel: „Klare strukturelle Regelungen sind gefragt“, fordert Lehner. In den nordischen Ländern wurde bereits viel früher daran gearbeitet. Etwa mit dem Karenzmodell in Island, wo heute über 90 Prozent der Männer in Karenz gehen. In dem Inselstaat stehen nach der Geburt des Kindes jedem Elternteil jeweils sechs Monate Karenz zu, über einen Monat kann frei verfügt werden. Wird die Karenz nicht in Anspruch genommen, verfällt sie nach dem „Use it or lose it“- Prinzip und kann somit nicht dem anderen Elternteil übertragen werden.
„Männer, die sich um ihre Kinder kümmern – damit meine ich nicht nur mit ihnen zu spielen, sondern die Hausarbeit zu machen und sein Leben nach den Kindern auszurichten –, denken und agieren sozialer und empathischer“, erklärt der Psychoanalytiker. Fortsetzen müsse sich die Präsenz von Männern in der Fürsorgearbeit auch in der Pflege älterer Menschen, Kranker und Sterbender. „Ein Umbau der Gesellschaft ist notwendig, zum Wohle aller“, sagt Lehner.
Weiter kreiden
Ein Umdenken wollen auch die Aktivistinnen von „Catcalls of Graz“ bewirken. Es scheint beinahe wie eine Utopie: Ein öffentlicher Raum, in dem Frauen nicht sexualisiert und belästigt werden. „Wenn ich die Nachrichten auf Instagram öffne, tut es mir jedes Mal unheimlich leid, dass eine Frau so etwas im Alltag erleben muss“, berichtet Anna Majcan.
Gleichzeitig freue sie sich über die positiven Reaktionen der Betroffenen. „Bei fast jeder Nachricht wird uns gedankt. Für viele ist es das erste Mal, dass sie ihre Erlebnisse mit jemandem teilen können, der sie ernst nimmt.“ Für Anna und ihre Mitstreiterinnen ein großer Antrieb weiterzumachen. Sie werden kreiden, solange es etwas anzukreiden gibt.
Unterstützen Sie jetzt unabhängigen Menschenrechtsjournalismus mit einem MO-Magazin-Solidaritäts-Abo