Die im Dunkeln sieht man nicht
Die neue „Sozialhilfe“: Ignoranz und Demütigung für Menschen in Not. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Eine Kolumne von Martin Schenk, Illustration: Petja Dimitrova
Es war einmal ein arm Kind und hatt‘ kein Vater und keine Mutter, war alles tot, und war niemand mehr auf der Welt…Und weil auf der Erde niemand mehr war, wollt‘s in Himmel gehn, und der Mond guckt es so freundlich an; und wie es endlich zum Mond kam, war‘s ein Stück faul Holz. Und da is es zur Sonn gangen, und wie es zur Sonn kam, war‘s ein verwelkt Sonneblum … Und wie‘s wieder auf die Erde wollt, war die Erde ein umgestürzter Hafen. Und da hat sich’s hingesetzt und geweint, und da sitzt es noch und is ganz allein.“ Dieses Anti-Märchen erzählt die Großmutter dem kleinen Buben von Woyzeck in Georg Büchners Dramenfragment aus dem Jahr 1837. Woyzeck schlägt sich mit Teilzeitjobs für Marie und sein Kind durch, ungesehen, zum Objekt degradiert, andauernd der Ignoranz seiner Umgebung ausgesetzt. Woyzeck erzählt von einem Leben ohne soziale Anerkennung und „gesehen werden“.
„Die im Dunklen sieht man nicht“, heißt eine aktuelle Erhebung, die den Auswirkungen der von Schwarz-Blau eingeführten „Sozialhilfe“ nachgeht – in NÖ, OÖ, Salzburg und Vorarlberg. Die Folgen für Menschen mit Behinderungen, Wohnen, Frauen in Not, Gesundheit und Kinder sind massiv. Die Verschlechterungen treffen alle. Zu besonders drastischen Kürzungen kommt es etwa bei Menschen mit Behinderungen, deren Unterhaltsforderungen jetzt österreichweit als Einkommen gewertet werden. Kinder sind durch Kürzungen vielfach in ihrer Entwicklung eingeschränkt. Eine weitere massive Verschlechterung betrifft die Leistungen fürs Wohnen, auch die Wohnbeihilfe wird jetzt von den zuständigen Behörden einbehalten. Woyzeck: „Wir arme Leut – Sehn Sie, Herr Hauptmann: Geld, Geld! Wer kein Geld hat. Unsereins ist doch einmal unselig in der und der andern Welt.“
Bei der Erhebung geben 84 Prozent der Befragten an, dass durch die Einführung der Sozialhilfe das Verfahren nicht vereinfacht wurde. Der Ton sei vielmehr rauer geworden. Auch die helfende Praxis habe bei jenen Leistungen abgenommen, die Behörden ohne Rechtsanspruch in Härtefällen gewähren: 70 Prozent berichten von einer Verschlechterung bei der Vermeidung von Härtefällen. Und das in Zeiten der Teuerung. Woyzeck: „Die Erd is höllenheiß – mir eiskalt, eiskalt – Die Hölle is kalt, wollen wir wetten.“
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