Einen neuen Möglichkeitsraum schaffen
Beim Namen Traiskirchen denken viele wohl an die Erstaufnahmestelle für Geflüchtete. Der Ausstellungsparcours „WHAT CAN BE DONE? Praktiken der Solidarität“ führt historische und aktuelle Linien zusammen. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Nachgefragt bei Kuratorin Michaela Geboltsberger.
Postkarte „Welt am Draht“, Anna Jermolaewa (*1970, St. Petersburg)
Von den sechs Telefonzellen aus, die sich auf dem Gelände des Erstaufnahmezentrums
befinden, werden die meisten Auslandsgespräche in ganz Österreich geführt.
In ihrer Arbeit setzt sie sich mit ihrer eigenen Biografie auseinander.
Der Ausstellungsparcours hat den Titel „WHAT CAN BE DONE? Praktiken der Solidarität“ – Was war die Idee für diese Ausstellung?
„What can be done?“ ist ein Ausstellungsparcours zeitgenössischer Kunst im öffentlichen Raum in Traiskirchen und stellt Fragen nach gesellschaftlicher Partizipation und Solidarität mit Blick auf aktuelle und historische Kontexte. Traiskirchen hat viele Facetten und eine seit dem 18. Jahrhundert reiche Geschichte als wichtiger Industriestandort. Nach dem Ende des industriellen Aufschwungs hat er sich neu positioniert. In die ehemaligen Produktionshallen, in denen über lange Zeit Güter für die ganze Welt hergestellt wurden, sind längst neue Gewerbe und Dienstleister eingezogen. Der einst wichtige Güter-Transportweg über den Wiener Neustädter Kanal dient nun als Naherholungsgebiet. Und der Weinbau ist ein nach wie vor bedeutendes Kulturgut für die Stadt und die gesamte Region. Auch politisch ist der Geist der ehemaligen Arbeiter*innenstadt allgegenwärtig.
Traiskirchen ist aber auch ein Ort, der spätestens seit 2015 im kollektiven Gedächtnis der Österreicher*innen Spuren hinterlassen hat. Das Erstaufnahmezentrum ist seit den 1950er-Jahren ein Spiegel geopolitischer Konflikte in Europa und darüber hinaus. Gleichzeitig wurde der Ort durch eine starke Zivilgesellschaft zu einem Symbol gelebter Solidarität. Es ist ein Ort voller Ambivalenz.
Installation, Dariia Kuzmych (*1991, Kiew)
Die Künstlerin greift das regionale Motiv des Weines auf und stellt in ihrer Arbeit zwei völlig
konträre Zeitlichkeiten gegenüber: die Wahrnehmung von Zeit im Zusammenhang mit
Wein und Genuss sowie jene während des Erlebens von traumatischen Ereignissen.
Wie äußert sich diese Solidarität aktuell?
Angesichts des aktuellen Krieges in Europa werden von allen Seiten Solidaritätsbekundungen ausgesprochen, und es wird zu europäischer Einigkeit und Geschlossenheit aufgerufen. Durch den Status als Vertriebene von Ukrainer*innen hat die europäische Politik einen ersten Schritt für eine neue Asylpolitik geschaffen. Es wurde ein Möglichkeitsraum erzeugt, der einen sofortigen Eintritt in die Erwerbstätigkeit ermöglicht oder den Besuch von Deutschkursen, anstatt in einem ungewissen Asylverfahren über Jahre festzuhängen. Diese Form der Solidarität gilt aber nicht für alle Menschen. Entscheidend ist die Frage, wie Solidarität auch mit denjenigen möglich ist, mit denen man nicht gemeinsame Erfahrungen, das Geschlecht oder die Herkunft teilt.
„Ein Realist oder ein Träumer“, Kamen Stoyanov (*1977 in Rousse, BG)
Für das Video begleitete Kamen Stoyanov einen früheren Bewohner des Erstaufnahmezentrums
bei seiner Arbeit im Garten der Begegnung und in seinem Zuhause, einem Grundversorgungs-Quartier.
Die Installation ist in einem ehemaligen Weingartenhüter-Häuschen zu sehen.
In Traiskirchen befindet sich eines der Erstaufnahmezentren in Österreich. Inwiefern kann dieser Ort produktiv für so eine Ausstellung sein?
Wenn man sich in Traiskirchen aufhält, merkt man schnell, wie stolz die Bewohner*innen der Stadtgemeinde auf ihre Vergangenheit als Industrie- und Arbeiter*innenstadt sind und welch kleine Rolle das Erstaufnahmezentrum im täglichen Leben spielt.
Im Rahmen der Ausstellung haben uns Orte interessiert, an denen sich die Wege der lokalen Bevölkerung und die der Geflüchteten kreuzen. Schlussendlich geht es in diesem Zusammenhang um ein Aushandeln von Konzepten des Zusammenlebens und diese finden nicht nur auf politischer Ebene, sondern auch in den Klassenzimmern, an den Universitäten, auf der Straße und vor allem im privaten Bereich statt. In Traiskirchen ist dieser Dialog deutlich spürbar.
Wir haben uns gefragt, was zeitgenössische Kunst in diesem Spannungsfeld bewirken kann. Sie kann aufarbeiten, visualisieren, Diskurse offenhalten und vielleicht dazu beitragen, dass durch solidarisches Handeln und gemeinschaftliche Dynamiken und Initiativen in Zeiten großer Herausforderungen gesellschaftliche Gegenentwürfe greifbarer und damit vorstellbar werden.
„Steel Rings“; Rayyane Tabet (*1983, Ashqout, Libanon)
Der Künstler bildet mit seiner Skulptur einen Abschnitt der nach 1946 gebauten Pipeline zwischen
Saudi-Arabien und dem Mittelmeer nach. Seit damals war die TAPline Zeugin sozioökonomischer
Krisen im Nahen Osten. Im Hintergrund ist das Erstaufnahmezentrum zu sehen.
Nach welchen Kriterien wurden die Künstler*innen ausgewählt?
Die neun Künstler*innen haben sich mit Traiskirchen auseinandergesetzt, mit der Geschichte, der Vergangenheit und der Gegenwart. Es sind zum Großteil neue ortsspezifische Arbeiten entstanden, die sich mit Migration, persönlicher Freiheit, solidarischen Handlungen und Zivilcourage beschäftigen, mit aktuellen gesellschaftlichen Herausforderungen, aber auch mit persönlichen Träumen und Wünschen.
Die Künstler*innen versammelt, mit Kuratorin Michaela Geboltsberger und Bürgermeister Andreas Babler.
Der Ausstellungsparcours läuft noch bis 25. September, was sollte man beachten, wenn man ihn erkundet?
Besucher*innen werden den Ort Traiskirchen erkunden. Manche Arbeiten befinden sich im Zentrum, viele sind aber abseits der bekannten Orte positioniert. Es gibt ein umfangreiches Begleitprogramm, das aus geführten Touren und Interventionen besteht. (gun)
Die letzte Führung findet am 15. 9. statt. www.publicart.at/de/kalender/?pid=1064
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