Flagge zeigen
In Österreich reichte die Diskriminierung und Verfolgung von LGBTIQ-Menschen bis weit über die Nachkriegszeit hinaus. Eine Rehabilitierung sowie ein vollständiger Diskriminierungsschutz stehen bis heute aus. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Milena Österreicher
„Queeres Leben ist in der ganzen Stadt vorhanden, man muss es nur suchen.“ Andreas Brunner,
Historiker und Co-Leiter der Forschungsstelle QWIEN.
Zu früher Abendstunde am 7. Februar war es soweit. Es ist das Jahr 1944, am Landesgericht Wien wird Franz Doms dem Scharfrichter vorgeführt und das Todesurteil vollstreckt. Doms wurde mit 21 Jahren aufgrund seiner Homosexualität ermordet. Im Buch „Franz. Schwul unterm Hakenkreuz“ (2021) erzählt der Autor Jürgen Pettinger die Geschichte des jungen Österreichers. Doms ist dabei nur eines der zahlreichen homosexuellen Opfer der NS-Justiz.
Beinahe 80 Jahre später zählt das Landesgericht Wien auch zu den Stopps, die Historiker Andreas Brunner auf seinen Stadtspaziergängen einlegt. Der Co-Leiter der Forschungsstelle QWIEN erinnert bei seinen geführten Touren an die queere Geschichte der Stadt. „Queeres Leben ist in der ganzen Stadt vorhanden, man muss es nur suchen“, erzählt Brunner.
Warten bis heute auf Entschuldigung vom
Parlament. Michael Kudler (HOSI)
Geschichtsstunde
Die Forschungsstelle QWIEN ist es auch, die für das Justizministerium eine rechtshistorische Analyse der gesamten österreichischen Rechtslage nach 1945 durchführen und rechtliche Diskriminierung von LGBTIQ-Personen untersuchen wird. Kommendes Jahr sollen Ergebnisse vorliegen.
Im Juni vergangenen Jahres entschuldigte sich Alma Zadić als erste Justizministerin für die strafrechtliche Verfolgung homosexueller Menschen. „Nur wer die Geschichte kennt, kann auch aus der Geschichte lernen“, meinte Zadić. Lernstoff scheint es genügend zu geben. Von 1852 bis 1971 galt mit Strafrechtsparagraf 129 1b ein Totalverbot homosexueller Handlungen: Bis zu fünf Jahre Haft für „Unzucht wider die Natur“. Für Männer wie für Frauen, wobei Historiker Brunner zufolge Frauen seltener und oft milder bestraft wurden. „Frauen wurde oft eine eigenständige Sexualität abgesprochen.“
Unter der Naziherrschaft galten etwa Beziehungen zwischen Frauen nicht als direkte Gefährdung der Volksgemeinschaft. „Frauen konnte man sozusagen immer noch zum Gebären zwingen. Homosexuelle Männer entzogen sich aber dem Fortpflanzungsdiktum“, so der Historiker.
Mit der „Kleinen Strafrechtsreform“ unter Bruno Kreisky wurde der Paragraf schließlich 1971 abgeschafft, gleichzeitig aber vier weitere, Homosexuelle diskriminierende Paragrafen eingeführt. Von der Liste der offiziellen Krankheiten strich die Weltgesundheitsorganisation (WHO) Homosexualität knapp zwanzig Jahre später.
Flagge hissen
„Bis heute warten wir auf Rehabilitierung und eine Entschuldigung vom österreichischen Parlament“, sagt Michael Kudler von der Homosexuellen Initiative Wien (HOSI). Im Gegensatz zu Deutschland, wo der Bundestag im Jahr 2000 eine Entschuldigung aussprach und die Opfer rehabilitierte, steht das in der Alpenrepublik bis heute aus.
Aufgewachsen im niederösterreichischen Bruck an der Leitha wagte Kudler erst in Wien sein Coming Out. „Ich wurde vor allem von der Jugendgruppe der HOSI Wien gestärkt“, sagt der heute 21-Jährige. Als Schüler engagierte er sich in der Schulvertretung der HTL Wien und initiierte erstmals im Juni 2019 das Hissen einer Regenbogen- Flagge vor der Schule.
Heute ist der Niederösterreicher Leiter des HOSI-Projekts FLAGincluded. Die Flagge soll als Diskursstarter dienen. Es kämen auch viele Anfragen für Workshops zu LBTQI-Themen. Insgesamt 150 Schulen waren dieses Jahr österreichweit bunt beflaggt. „Die Flagge soll für die Jugendlichen auch ein Symbol sein, dass sie von ihrer Schule unterstützt werden und dass sie sich bei Problemen an ihren Direktor, ihre Direktorin wenden können“, sagt Kudler. Als Michael Kudler in seiner Pubertät feststellte, dass er sich zu Männern hingezogen fühlte, war es bereits legal, eine gleichgeschlechtliche Beziehung ab 14 Jahren einzugehen. Keine Selbstverständlichkeit, denn in Österreich galt bis 2002 für homosexuelle Beziehungen mit 18 Jahren ein anderes Mindestalter als für heterosexuelle Beziehungen, die mit 14 Jahren eingegangen werden konnten. Eine weitere Bestimmung, die durch den Verfassungsgerichtshof gekippt wurde. „Es ist bezeichnend für Österreich, dass immer erst der VfGH einschreiten muss“, sagt Kudler.
Dem stimmt auch Historiker Andreas Brunner zu. „Bis auf die Einführung der Eingetragenen Partnerschaft 2010 wurden in diesem Bereich seit 1996 alle rechtlichen Verbesserungen durch den VfGH gefordert“, berichtet er. „Ohne VfGH sähe es traurig aus, weil sich ÖVP und FPÖ gegen alle Reformen gestemmt haben und das bei den Antidiskriminierungsrichtlinien bis heute tun.“
Gesetzeslücken
Europäischer Vorreiter war Österreich hingegen 1979 mit dem Gleichbehandlungsgesetz. „Hätten wir hier auf die EU gewartet, wäre es 1995 geworden“, sagt Sandra Konstatzky, Leiterin der Gleichbehandlungsanwaltschaft (GAW). Genau jenes Gesetz sorgt jedoch für paradoxe Fälle.
Diskriminiert etwa ein homophober Gastwirt seine lesbische Kellnerin, kann sich diese rechtlich zur Wehr setzen, da das Gleichbehandlungsgesetz bei der Kategorie „Sexuelle Orientierung“ den Arbeitsbereich umfasst. Der schwule Gast, der vom Wirten aus dem Lokal geworfen wird, kann sich juristisch jedoch kaum zu Wehr setzen. Die Ungleichbehandlung aufgrund sexueller Orientierung ist im Beruf per Gesetz verboten, während sie bei der Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen rechtlich nicht relevant ist.
Anfang des Jahres machte der Fall einer Beherbergungsstätte in der Wachau Schlagzeilen, die sich auf ihrer Website als „Anti-Homo-Haus“ bezeichnete und verlautbarte, dass homosexuelle Gäste unerwünscht seien. Der ÖVP-Bürgermeister ließ das Haus von der Beherbergungsliste der Gemeinde entfernen. Doch mehr als Empörung war nicht drinnen. Das Vermieten von Wohnflächen zählt neben Gastronomie, Versicherungs- und Bankdienstleistungen oder dem Gesundheitssektor zur Versorgung mit Gütern und Dienstleistungen. „Interessanterweise genießen hier Trans- und Interpersonen einen höheren Schutz als homosexuelle Menschen, da sie in die Kategorie des Geschlechts fallen und hier der umfassende Diskriminierungsschutz besteht“, erklärt Gleichbehandlungsanwältin Konstatzky. „Unsere wichtigste Forderung bleibt das Levelling up, das heißt die Ausweitung des Diskriminierungsschutzes bei sexueller Orientierung auf alle Lebensbereiche“, sagt Konstatzky. Neben Griechenland und Spanien zählt Österreich in der EU zu den wenigen Ländern, die keinen vollständigen Diskriminierungsschutz bieten. „Seit 2008 führen wir diese Diskussion“, erklärt die Leiterin der GAW. Selbst Ungarn und Polen hätten den umfassenden Schutz vor rund zehn Jahren eingeführt.
Kommt es zu Ungleichbehandlungen am Arbeitsplatz, kann die Gleichbehandlungsanwaltschaft Schadenersatzpflicht prüfen bzw. Fälle vor die Gleichstellungskommission bringen. Wenn der Diskriminierungsfall nicht die Berufswelt betrifft, kann er dennoch online und anonym gemeldet werden.
Historiker Andreas Brunner: gegen alle Reformen gestemmt. |
Sandra Konstatzky (GAW): Mit dem Gleichbehandlungsgesetz |
Wolfgang Wilhelm (WASt): unterstützt Personen, |
Diskriminierung unerwünscht
„Uns wurde zuletzt von einem Fall berichtet, wo eine homosexuelle Person in der eigenen Wohnung von Handwerkern belästigt wurde“, erzählt Wolfgang Wilhelm, Leiter der Wiener Antidiskriminierungsstelle (WASt). Laut WASt leben rund 180.000 Menschen in der Bundeshauptstadt, die sich als LGBTIQ identifizieren.
Zwischen 100 und 150 Beratungsgespräche führte die WASt vergangenes Jahr durch. Wolfgang Wilhelm beobachtet ein gesteigertes Unrechtsbewusstsein, aber auch einen Anstieg an homophober Gewalt. Oft passieren Übergriffe am Wochenende in Partynächten, häufig sei Alkohol im Spiel.
„Wichtig ist, Vorfälle nicht runterzuschlucken, sondern Hilfe zu suchen“, rät Wilhelm. Die Antidiskriminierungsstelle schaltet sich auf Wunsch ein, sucht den Kontakt mit allen Betroffenen oder kontaktiert gegebenenfalls die Polizei. „Wir wollen zeigen, dass Wien LGBTIQ-Personen unterstützt. Wir wollen keinerlei Diskriminierung in unserer Stadt“, so Wilhelm.
Liebe leben
Während Wien mit seiner „Lebe deine Liebe“-Kampagne schmusende Männer und Frauen in der ganzen Stadt plakatiert, verschärfte sich die Lage für LGBTIQ-Personen in manchen Nachbarländern. In Polen erklärten sich rund hundert Städte und Dörfer zu „LGBTfreien Zonen“, in Ungarn wurden u. a. Publikationen verboten, die nicht heterosexuelle Sexualität darstellen. Die EU leitete in beiden Fällen Vertragsverletzungsverfahren ein.
„Die Sichtbarkeit der Community hat besonders in der Corona-Pandemie gelitten“, sagt HOSI-Mitarbeiter Michael Kudler. Dabei wäre Repräsentation gerade auch für junge Menschen so wichtig. Die Suizidrate ist unter homosexuellen Jugendlichen in Österreich bis zu sechsmal höher als unter der restlichen Bevölkerung. Laut einer Studie der Medizinuniversität Wien aus dem Jahr 2020 können Medien, wie etwa ermutigende Videos, in denen Menschen von ihrem Coming Out erzählen, zur Suizid-Prävention bei jungen LGBTIQMenschen beitragen. „Nichts ist bestärkender, als seinesgleichen wiederzufinden. Der Moment, als zwei Frauen einander in der US-amerikanischen Serie „Grey‘s Anatomy“ einen Heiratsantrag machten, war für mich ein Befreiungsschlag“, schreibt die Journalistin Franziska Tschinderle im „profil“.
„In den vergangenen Jahrzehnten hat sich bereits einiges zum Positiven verändert“, meint auch der Historiker Andreas Brunner. Seit 2010 sind Eingetragene Partnerschaften in Österreich möglich, seit 2019 die Ehe für alle. Der Operationszwang für eine Personenstandsänderung fiel. Frauen in lesbischen Partnerinnenschaften haben mittlerweile Zugang zu einer künstlichen Befruchtung durch Samenspende. Auch sollen homo- und bisexuelle Männer sowie Transpersonen demnächst Blut spenden dürfen.
Bis nächstes Jahr soll im Resselpark am Wiener Karlsplatz ein Denkmal für Männer und Frauen, die Opfer der Homosexuellen- Verfolgung in der NS-Zeit wurden, errichtet werden. An der Fassade des Wiener Landesgerichts wird zwar auf einer Tafel den Opfern von 1938- 1945 gedacht, die am Gericht wegen ihrer politischen Überzeugung, nationalen Herkunft oder wegen ihres Glaubens hingerichtet wurden. Die Erwähnung der sexuellen Orientierung, wegen der auch Franz Doms sein Leben lassen musste, sucht man bis heute vergebens.
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