Grenzschutz durch Pushbacks?
Ein 17-jähriger Somalier wird an der Grenze zur Steiermark zurückgewiesen, obwohl er um Asyl ansucht. Rechtsanwalt Clemens Lahner übernimmt den Fall – und gewinnt. Am Ende spricht das steirische Landesverwaltungsgericht sogar davon, dass die Polizei an der Grenze methodisch Pushbacks einsetzt. Erleben wir einen Diskursklimawandel? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Sophia Reiterer
Der 17-jähriger Amin flieht aus Somalia nach Europa. Er schafft es, mit dem Flugzeug bis in die Türkei zu kommen. Zu Fuß marschiert er 17 Tage lang über die sogenannte „Balkanroute“ bis nach Slowenien und überschreitet schließlich in der Steiermark zusammen mit einer Gruppe anderer Geflüchteter die österreichische Grenze. Es dauert nicht lange, bis eine Streife auf die Geflüchteten trifft. Sie freuen sich: Sie haben es endlich nach Österreich geschafft. Sie suchen um Asyl an, sprechen mehrmals „Asyl“ und „Asylum“ aus. Die Polizei wird das später bestreiten. Am Ende des Tages landen die Männer wieder in Slowenien. Wie ist es dazu gekommen? Wenn Menschen an der Grenze zurückgewiesen werden, obwohl sie um Asyl ansuchen, wird das als Pushback bezeichnet.
Klar geregelt: „Wenn jemand deutlich äußert, dass er oder sie Asyl beantragen will, dann muss die
Polizei das Bundesamt für Fremdwesen und Asyl verständigen.“ (Clemens Lahner)
Was bedeutet Pushback?
Pushback ist kein rechtlich abschließend definierter Begriff, ist im Diskurs aber etabliert. Adel-Naim Reyhani vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Grundund Menschenrechte dazu: „Der Begriff Pushback bezeichnet in der Regel eine illegale Praxis.“ Flüchtlinge oder Migrant*innen werden dabei an oder vor der Grenze eines Landes abgefangen und zurückgedrängt, ohne dass deren Schutzbedarf ordentlich geprüft werde. Dieses Recht wird ihnen verweigert. Im konkreten Fall von Amin handelt es sich auch um einen illegalen Pushback. Nachdem die Behörde die Gruppe der Flüchtlinge aufgegriffen hatte, stellte sich in der Polizeistelle Sicheldorf schnell heraus, dass niemand aus der Gruppe gültige Papiere dabei hatte. Daraufhin verständigte die steirische Polizei die slowenische Polizei, die die Gruppe junger Männer schließlich abholte und hinter die Grenze brachte. „Prinzipiell darf die Polizei so was machen“, erklärt Clemens Lahner. Er ist der Rechtsanwalt, der den 17-Jährigen im Gerichtsverfahren am Landesverwaltungsgericht Steiermark vertritt. „Wenn aber jemand deutlich äußert, dass er oder sie Asyl beantragen will, dann muss die Polizei das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl verständigen“, erklärt Lahner den entscheidenden Unterschied.
Recht auf Rechte
„Flüchtling zu sein, bedeutet vorerst, dass man keinen sicheren Rechtsstatus mehr vorfindet. Der Schutz des Herkunftsstaates ist verloren“, beschreibt Adel-Naim Reyhani die ausweglos scheinende Situation geflüchteter Menschen, die keinen Zugang zu Asyl haben. Werden diese Menschen an einer Grenze zurückgewiesen, ohne überhaupt die Chance zu bekommen, dass ihr Asylantrag in einem Verfahren behandelt wird, dann werden diese Menschen ihres Rechts beraubt, überhaupt Rechte zu haben. Das hat weitreichende Folgen. Der Menschenrechtsexperte weist darauf hin, dass das dann keine rein rechtliche Frage mehr ist: „Menschen wird dadurch verwehrt, wieder einen rechtmäßigen Platz auf der Welt zu haben, wo sie Teil einer Gemeinschaft sind, in der sie sich zusammen mit anderen engagieren können.“
Zu dieser verzwickten Lage hat auch beigetragen, dass vielen Menschen legale Fluchtwege verwehrt werden. Sie sind gezwungen, illegal die Grenzen zu übertreten. „Die Möglichkeiten zur legalen Einwanderung wurden deutlich erschwert. Deshalb schauen die Menschen, wie sie über das Asylrecht nach Europa einreisen können“, beschreibt Lahner die Situation. Auch, dass eine Einreisegenehmigung nicht mehr über Botschaften im Ausland möglich ist, befördere illegale Einreisen. Er gibt zu bedenken: „Zusätzlich zur erschwerten legalen Einreise werden nun auch noch Lager gebaut, Grenzzäune aufgezogen und Grenzschutztruppen aufgerüstet“, meint er. Insofern ist das Argument der Schlepperei für Lahner hinfällig, denn: „Die Gesetzgebung hat dieses Problem erst erschaffen.“ Wenn ein Mensch legal migrieren könnte, würde er Lahner zufolge keinen Cent für Schlepper*innen ausgeben. Wenn Menschen nun aber auch noch verwehrt wird, von ihrem Asylrecht Gebrauch zu machen, ist das eine ausweglose Situation.
Wird Menschen an der Grenze verweigert, um Asyl anzusuchen, dann werden sie
„ihres Rechts beraubt, überhaupt Rechte zu haben.“ Adel-Naim Reyhani, Ludwig Boltzmann
Institut für Menschenrechte.
NGOs und Anwälten wie Clemens Lahner kommt deshalb eine besondere Verantwortung zu. Oft wissen geflüchtete Menschen nicht, welche Rechte sie haben und wie sie zu ihren Rechten kommen. Deshalb sei es wichtig, dass es NGOs wie „Border Crossing Spielfeld“ oder „Pushback Alarm Phone Austria“ gibt. Sie versuchen, den Flüchtlingen Zugang zu ihrem Recht zu verschaffen. „Ich arbeite mit einer NGO zusammen, die mich kontaktiert und gefragt hat, ob ich die Vertretung dieses 17-Jährigen übernehmen könnte“, erzählt Lahner. Angesichts der Beweislage traute er sich zu, den Fall zu gewinnen, und zog mit seinem Klienten vor Gericht. „Ohne die NGOs in Slowenien und das Vertrauen des Klienten wäre das nie gelungen“, zeigt sich Lahner dankbar.
Lahner: Fall gewonnen, trotzdem durfte sein
Mandant nicht einreisen.
Fall gewonnen, aber kein Aufenthaltsrecht
Tatsächlich befand das steirische Landesverwaltungsgericht, dass die Amtshandlung der Beamt*innen rechtswidrig war. „Die Beamt*innen haben weder das BFA verständigt noch haben sie selbst die Erstprüfung übernommen.“ Ob sein Klient das Wort Asyl oder Asylum einmal oder mehrfach ausgesprochen hat, weiß Lahner nicht – er war schließlich nicht mit dabei. Trotzdem war er von Anfang an überzeugt davon, diesen Fall gewinnen zu können. „Wir hatten GPS-Daten von den Handys der Burschen. Auf dem Handy war sogar ein Video, auf dem sie sich gefilmt haben, während sie sich über den Grenzübertritt gefreut haben“, beschreibt der Rechtsanwalt die Beweislage. Warum hätte die Gruppe Geflüchteter also nicht um Asyl ansuchen wollen? „Ein weiterer Erfolg ist, dass das Landesverwaltungsgericht nicht nur der Klage stattgegeben hat, sondern auch dazugeschrieben hat, dass diese Pushbacks methodisch stattfinden“, meint Lahner. Die Polizei hat das beim Verwaltungsgerichtshof beeinsprucht, erfolglos. „Das sind schon Meilensteine, dass beide Amtsrevisionen zurückgewiesen wurden und nun schwarz auf weiß steht, dass Pushbacks an der österreichischen Grenze methodisch stattfinden“, misst Lahner dem Spruch große Bedeutung zu.
Bei der Gerichtsverhandlung durfte Amin nicht persönlich anwesend sein. Warum? Er hatte kein Recht, nach Österreich einzureisen. Er wurde per Videoschaltung zugezogen. Der Menschenrechtsexperte Adel-Naim Reyhani kommentiert das so: „Wenn jemand in Österreich einen Asylantrag stellt, hat er einen faktischen Abschiebeschutz. Der wurde hier klar verletzt.“ Ein Aufenthaltsrecht hingegen bekommt man illeerst mit der Zulassung zum Asylverfahren, also in dem Moment, wo entschieden wird, dass Österreich der zuständige Staat ist. Reyhani sieht hier eine Rechtslücke, die geschlossen gehöre: Personen, denen durch ein Zurückdrängen an der Grenze rechtswidrig ein Asylverfahren verweigert wurde, sollte wieder die Möglichkeit auf ein solches Verfahren in Österreich gegeben werden. Clemens Lahner beschreibt die Situation als „skurril“: „Im Namen der Republik wurde rechtskräftig festgestellt, dass die Amtshandlung der Polizei rechtswidrig war. Trotzdem ergibt sich daraus kein Recht zur Einreise oder für einen Aufenthalt.“ Der Gesetzgeber sei gefordert. „Wenn systematisch Recht gebrochen wird, dann müsste man das Recht auch ändern“, stellt er fest. Konkret bedeute das: „Wenn jemand illegal abgeschoben wird, soll die Person wieder einreisen dürfen.“
Systematische Pushbacks erfordern politische Lösung
Warum handeln Grenzkontrollbehörden so? Auf diese Frage zeigt sich Lahner erst einmal ratlos. Er wolle keinem Polizisten und keiner Polizistin etwas unterstellen. Er spricht aber von einem Diskursklima, das vor allem darauf abzielt, Grenzen zu schützen. „Der gesamte Bereich von Grenzkontrollen, Asylrecht, Fremdenrecht, liegt im Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums.“ Das sei ein Fehler, weil Migration kein sicherheitspolitisches Anliegen ist. „Innenminister*innen haben nun schon häufig bewiesen, dass sie keine Ahnung und kein Gespür haben, weil sie alles durch die Sicherheitsbrille sehen“, ergänzt er. Vor Wahlen werde dann rituell von mehr und schärferen Grenzkontrollen gesprochen. Das wirke sich auch auf das Handeln der Grenzbehörden aus. „Die kriegen ja mit, dass das Bundesinnenministerium keine Leute nach Österreich lassen will – dann denken sie vielleicht, es ist besser, wenn sie sie die Grenze gar nicht erst passieren lassen.“ Auch Reyhani appelliert, politische Prozesse dahin zu entwickeln, dass konstruktive Entscheidungen getroffen werden können – ohne die Angst, eine Wahl verlieren zu können.
Grenzen, Zäune und Meere
Der Fall des 17-jährigen Somaliers ist glimpflich ausgegangen. Er hat in Slowenien Asyl bekommen. Dennoch: „Dramatisch an den Pushbacks von Österreich nach Slowenien ist, dass es zu sogenannten Kettenabschiebungen bis nach Bosnien führen kann“, so Lahner. Die Flüchtlinge würden von Grenze zu Grenze zurückgeschoben und in Kroatien hinter die Bosnische Grenze geprügelt. „Dort sitzen die Menschen dann buchstäblich im Gatsch, ohne Handy, ohne gar nichts“, weiß Lahner.
Manchmal liegen Grenzen, an denen Pushbacks durchgeführt werden, auch auf hoher See. Die Problematik mit ille galen Pushbacks und deren rechtlicher Handhabung wird für Reyhani unter anderem im zentralen Mittelmeer zwischen der italienischen und libyschen Küste deutlich. Italien wurde vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte wegen Pushbacks verurteilt, die in internationalen Gewässern stattfanden. Nun übernimmt die libysche Küstenwache für Italien diese „Migrationskontrolle“. Italien konnte seither nicht mehr belangt werden. Dass Italien die libysche Küstenwache mit Training, Equipment und Koordination bei solchen „Aktionen“ unterstützt, sieht Reyhani als rechtlichen Graubereich.
Clemens Lahner bezeichnet die Pushbacks zwischen Griechenland und der Türkei oder von der Libyschen Küstenwache als „mörderisch“: „Die Küstenwache oder Frontex machen angeblich Boote kaputt, lassen sie treiben oder übergeben Menschen der Libyschen Küstenwache, die nichts anderes als eine Banditentruppe ist.“ Lösegelderpressungen an Familien, sexuelle Ausbeutung und weitere furchtbare Auswirkungen seien die Folgen für die Flüchtlinge. Er wird deutlich: „Die Menschen steigen in das Boot, weil hinter ihnen die Hölle ist und ertrinken schließlich in dem Mittelmeer, wo wir Urlaub machen. Das wirkt nicht abschreckend, das ist zynisch und menschenverachtend.“
Seinen gewonnenen Fall sieht Lahner als einen Mosaikstein von vielen. „Natürlich kriege ich mit, dass auch in anderen Staaten solche Verfahren gewonnen werden“, stellt er fest. Das verändere das Klima und erzeuge öffentlichen Druck. Er hofft auch, dass konkret in Österreich solche Maßnahmenbeschwerden, wie er sie gewonnen hat, künftig in Polizeischulungen und Aus- und Weiterbildungen zur Sprache kommen. Sie sollen bewirken, dass weniger Menschen an den Grenzen illegal zurückgeschoben werden. „Dann sagen sie vielleicht, nein, machen wir das nicht, sonst wird der Lahner wieder lästig“, schmunzelt er.
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