„Ich glaube an die Jugend“
Vor einem Jahr hatte Österreich der afghanischen Astronomin Amena Karimyan ein Visum zugesagt und sie dann im Stich gelassen. Nach Monaten sprang schließlich Deutschland ein. Wie geht es der jungen Wissenschaftlerin heute, die die BBC zu einer der einflussreichsten Frauen im Jahr 2021 gekürt hatte? Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Interview: Evelyn Schalk
Monatelang wusste sie nicht, wie und ob sie den nächsten Tag überstehen würde. Nach ihrer lebensgefährlichen Flucht vor den Taliban vor einem Jahr saß die 25-jährige afghanische Ingenieurin und Astronomin Amena Karimyan in Pakistan fest, weil sich das österreichische Außenministerium weigerte, ihr das zuvor versprochene Visum auszustellen. Stattdessen behauptete man, sie habe sich nicht gemeldet, obwohl ihre verzweifelten Anfragen an die österreichische Botschaft dokumentiert sind. Daraufhin unterzeichneten tausende Menschen einen solidarischen Eilappell für Karimyan, Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek stellte sich hinter die Wissenschaftlerin und forderte die Einhaltung der Visumzusage, so wie andere Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens. Erfolglos. Inzwischen hatte die britische BBC Karimyan zu einer der einflussreichsten und inspirierendsten Frauen des Jahres 2021 gewählt. Nach über vier Monaten reagierte schließlich nicht Österreich, sondern Deutschland und befreite die Astronomin aus ihrer gefährlichen Lage. Zu Jahresbeginn kam sie endlich in Sicherheit an. Aus Österreich gibt es bis heute keine Stellungnahme oder Entschuldigung und damit auch keine Konsequenzen für die Verantwortlichen.
Nach ihrer lebensgefährlichen Flucht vor einem Jahr saß die 25-jährige afghanische Ingenieurin in
Pakistan fest. Österreich hatte das versprochene Visum verweigert. Heute lebt sie in Deutschland.
Im August war es genau ein Jahr her, dass die Taliban die Macht übernommen haben. Afghanistans Wirtschaft ist zusammengebrochen, das halbe Land hungert, die Rechte von Frauen sind stärker eingeschränkt als zuvor, Menschen werden verhaftet, gefoltert, ermordet. Die Zahl der Zwangsehen steigt, die Armut zwingt Familien, ihre Mädchen mitunter schon im Alter von acht oder neun Jahren für Brautgeld zu verkaufen, um das ökonomische Überleben zu sichern. Während die Welt auf den Krieg in der Ukraine blickt, droht die Katastrophe Afghanistans vergessen zu werden. Für Amena Karimyan ist das tägliche, unmittelbare Realität. Während sie im Deutsch-Kurs sitzt, bangt sie um ihre Familie. Bis spät nachts ist sie wach, versucht zu helfen, sichere Fluchtwege zu finden. Sie selbst wägt jeden Schritt ab, jedes öffentliche Posting, jedes Wort. Noch in Herat hatte sie die Organisation Kayhana gegründet, die Mädchen und Frauen naturwissenschaftliches Wissen vermittelt. Mit ihren Projekten hatte sie internationale Wettbewerbe gewonnen. Unter schwierigen Bedingungen betreibt sie Kayhana weiter. Förderungen gibt es kaum, vielen Teilnehmerinnen in Afghanistan fehlt das Geld für einen Internetzugang, kaum eine hat die Chance, das Land zu verlassen. Doch die Astronomie lässt Amena Karimyan nicht los, sind die Sterne doch vielleicht der einzige Blick in eine veränderte Zukunft.
Amena, du bist nach deiner Flucht aus Herat im Juli 2021 und einer schrecklichen Odyssee über Pakistan, im Jänner 2022 in Deutschland angekommen. Wie geht es dir heute?
Ich lebe in Böblingen, in der Nähe von Stuttgart, seit Kurzem nicht mehr in einer Flüchtlingsunterkunft, sondern allein in einer eigenen kleinen Wohnung. Darüber bin ich sehr froh. Gleichzeitig gehen mir tausend Dinge durch den Kopf, die Gedanken reißen nie ab, stehen nie still.
Noch in Herat hatte Karimyan die Organisation Kayhana gegründet,
die Mädchen und Frauen naturwissenschaftliches Wissen vermittelt.
... über Familie, Freunde, die eigene Zukunft? Was sind deine größten Sorgen?
Über einfach alles. Über ein Heimatland, das nicht länger Heimat ist. Über eine Freundin, die in einer verzweifelten Situation in Islamabad festsitzt, während ich nichts für sie tun kann. Über das Schicksal meiner Schwestern, die in alle Himmelsrichtungen zerstreut sind, in Pakistan, im Iran, in Afghanistan. Über meine Eltern, denen kein einziges schwarzes Haar am Kopf geblieben ist, sie sind in einem Jahr um ein Jahrhundert gealtert. Über mich, meine Zukunft, meine Ziele. Über meine Organisation Kayhana und was ich für die Mädchen tun muss. All das lässt mich nicht los, nicht einmal im Schlaf. Es sind schwere Gedanken, voller Traurigkeit, die nie aufhören. Meine größte Sorge gilt Afghanistan und dem Überleben meiner Freunde und Familie dort.
Wie hat sich ihr Leben in Afghanistan über dieses Jahr hinweg verändert, was hörst du über die aktuelle Lage?
Sie stehen unter enormem Druck, ökonomisch, mental, sozial. Ihr Leben ist ständig in Gefahr. Jeden Moment habe ich Angst, dass jemand verhaftet oder ermordet wird. Ohne die, die du liebst, hat das Leben keine Bedeutung. Eben erst hat meine Schwester ihr bis dahin gesundes Baby kurz vor der Geburt verloren. Ihre Trauer ist grenzenlos.
Das ist furchtbar. Besonders für Frauen ist die aktuelle Situation katastrophal. Wie haben deine Schwestern und Freundinnen die letzten Monate erlebt?
Die Situation ist sehr schlimm, der Druck für sie wird immer stärker, die Regeln werden immer mehr. Es gibt kein eigenes, funktionierendes Rechtssystem, keine Strategie, keine Reflexion. Sie wollen nur zeigen, dass sie irgendetwas tun, über die Lage der Frauen kann man endlos reden ohne Ergebnis. Im Namen der Scharia werden viele Frauen missbraucht und eingesperrt. Frauen dürfen nicht allein Autofahren, nicht lernen, nicht arbeiten. Ihnen wird gesagt, sie sollen, statt selbst zur Arbeit zu kommen, ihre Männer schicken, auch wenn die keine Ahnung von ihrem Job haben. Manchmal denke ich, es ist ein Albtraum, der nie endet.
Wie denkst du, sollte die Welt reagieren? Welche Forderungen hast du an die internationale Gemeinschaft?
Ich wurde gefragt, wenn ich mich so sehr um Afghanistan sorge, ob ich dann nicht besser dort geblieben wäre und meinen Leuten vor Ort geholfen hätte. Meine Antwort war, wenn ich in Afghanistan geblieben wäre, hätten sie meiner Mutter meine kopflose Leiche übergeben. Das ist es, was ich für meine Leute hätte tun können. Ich habe das öffentlich gesagt, und alle Anwesenden waren plötzlich sehr betroffen. Ich habe versucht, ihnen klarzumachen: Das ist kein Krimi, kein Drama, kein dystopischer Film, sondern das Leben der Menschen in Afghanistan und das Schicksal von tausenden vor allem jungen Leuten, die in dieser Geographie gefangen sind. Innerhalb und außerhalb des Landes. Die Leere des eigenen Heimatlandes ist ein brennender Schmerz. Es ist sehr schwer, de facto staatenlos zu sein und es ist eine so verletzende Erniedrigung. 40 Millionen Menschen wurden derart erniedrigt. Beim Begriff ‚internationale Gemeinschaft‘ muss ich bitter lachen. Wir wollen nichts von der internationalen Gemeinschaft, außer: Schickt keine Terroristen und überlasst der Jugend ihr Land. Ich glaube an die Jugend. Wenn es nicht permanent Interventionen der internationalen Gemeinschaft gegeben hätte, wären wir nicht dermaßen gedemütigt worden. Demokratie, Gerechtigkeit, Menschenrechte, globale Gesellschaft ... das waren immer nur Worte, mit denen man für uns Regeln gemacht hat. Daher haben die Menschen irgendwann wütend darauf reagiert. Diese Worte hat man zu Sand in den Augen der Menschen gemacht und damit Billionen von Dollars gerechtfertigt, die dafür jedes Jahr geflossen sind. Was ich wirklich von einer internationalen Gemeinschaft erwarte, ist, dass sie diesen Terroristen und ihrer Ignoranz nicht so viel Aufmerksamkeit und Raum gibt, dass sie sie nicht anerkennt und dadurch Afghanistan ihrer Macht entreißt.
Die öffentliche Aufmerksamkeit ist derzeit vor allem auf den Krieg in der Ukraine gerichtet. Was bedeutet dieser Krieg und seine Folgen für dich?
Ich sehe vor allem, dass Menschen, die vor Krieg fliehen, komplett unterschiedlich behandelt werden. Für die Geflüchteten aus der Ukraine sind alle Grenzen offen, sie erhalten innerhalb kürzester Zeit Unterkünfte, Papiere, Zugang zum Arbeitsmarkt. Andere Geflüchtete müssen darauf viele Jahre warten, wenn überhaupt. Das ist Diskriminierung. Dafür können die Ukrainer*innen nichts, sie sind Opfer des Krieges wie wir, haben Furchtbares erlebt und brauchen Hilfe. Es ist die internationale Gemeinschaft, die dafür verantwortlich ist. Es ist einfach nicht gerecht. Warum sollen alle anderen Geflüchtete zweiter Klasse sein? Diese Diskriminierung wird zurecht scharf kritisiert. Über den Krieg in der Ukraine hat die Welt zudem Afghanistans Horror vergessen.
Du hast die Jugend angesprochen – wie geht es mit deiner Organisation Kayhana weiter? Bist du mit deinen Schülerinnen noch in Kontakt?
Ja, wir sind in Verbindung und wir halten weiter unsere Treffen ab. Da wir unsere Aktivitäten inzwischen erweitert haben, haben sich die Mitglieder in mehreren Komitees organisiert. Wir haben uns um internationale Fördermittel bemüht, bisher leider erfolglos. Wir müssen weitermachen, es ist wichtiger denn je. Wir kämpfen so gegen die Ignoranz und für ein besseres Schicksal der afghanischen Jugend. In Afghanistan steht fast alles still, die meisten Organisationen haben ihre Tätigkeit eingestellt. Alle Mitglieder von Kayhana haben große ökonomische und mentale Probleme. Wir arbeiten online, aber vielen fehlt das Geld für Internet. Kayhana ist die einzige wissenschaftlich-astronomische Gruppe, die ihre Arbeit bis heute fortsetzt. Die Mädchen benötigen wirklich dringend Unterstützung.
Wieviele Mitglieder hat Kayhana?
Über fünfzig Mitglieder sind insgesamt in den verschiedenen Komitees aktiv, nur einzelne wenige konnten Afghanistan verlassen. Alle anderen sitzen im Land fest. Wenn sich nur die kleinste Möglichkeit böte, z.B. ein Stipendium zu erhalten, würden sie sofort weggehen.
Wie steht es um deine Familie, die zum Teil in den Nachbarländern Afghanistans und zum Teil noch im Land ist. Gibt es Chancen auf westliche Visa?
Ich habe so viel versucht, um meine Familie und Freund*innen dort herauszubekommen. Leider bisher ohne Erfolg. Sie waren alle gesellschaftspolitisch aktiv, als Lehrerinnen, für Frauenrechte, als Journalistinnen. Jede und jeder von ihnen ist gefährdet. Aber die größte Bedrohung für sie bin ich. Ich habe praktisch alle meine Aktivitäten eingestellt. Ich kann nicht arbeiten, wie ich will, solange meine Familie Geisel dieser Terroristen ist. Jeden Moment fürchte ich, dass ihnen etwas passiert. Es ist schwer, ständig in Angst zu leben. Ich bin oft deprimiert, aber ich muss weitermachen, für meine Familie, für eine Veränderung in meinem Land. Ich habe keine Angst um mich, aber ich kann nicht die, die ich liebe, für meinen Weg opfern.
Wie siehst du deine Zukunft?
Ich hoffe, meine Aktivitäten fortsetzen zu können. Ich habe keine persönlichen Ziele, außer, dass ich mir eine Welt wünsche, in der alle gleichberechtigt sind. Mein Traum ist, die erste afghanische Astronautin zu werden, nicht für mich, sondern um unseren Frauen den Weg zum Himmel zu öffnen.
Evelyn Schalk ist Journalistin, Autorin und Mitherausgeberin des ausreißer – Die Wandzeitung. Sie hat Amena Karimyan im Frühjahr 2021 nach Graz eingeladen und sich nach der Machtübernahme der Taliban mit Kolleg*innen aus Kultur und Wissenschaft dafür eingesetzt, sie nach Österreich zu evakuieren. Die Geschichte von Amena Karimyans Flucht hat sie hier dokumentiert: https://ausreisser.mur.at/2021/12/20/nacht-ueber- oesterreich-fuer-afghanische-astronomin-2/
Literaturtipp:
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