Ohne Wahl
Bei der Bundespräsidentschaftswahl darf bereits jede*r Sechste im Land nicht wählen. Im Parlament findet eine Mehrheit, das ist okay. Doch die Argumente sind mehr als fragwürdig. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Alexander Pollak
Die Entwicklung ist dramatisch: Zwischen 1985 und 2022 ist der Anteil der in Österreich lebenden Menschen, die aufgrund ihrer Staatsbürgerschaft nicht wählen dürfen, von 3,7 Prozent auf fast 18 Prozent angewachsen. Unsere Demokratie erfährt dadurch tiefe Risse. Dennoch vertritt eine parlamentarische Mehrheit die Meinung, dass dieser Ausschluss in Ordnung oder gar ein „hohes Gut“ sei. Hat diese Mehrheit recht?
Ein Argument lautet, es gebe nirgendwo auf der Welt ein Wahlrecht für Nichtstaatsbürger*innen. Das ist falsch. Zwar gibt es tatsächlich nur wenige Länder, die es Menschen ohne Landesstaatsbürgerschaft gestatten, an nationalen Wahlen teilzunehmen, aber es gibt sie. Neuseeland ist ein Vorzeigebeispiel. Dort können Personen mit langfristiger Aufenthaltsberechtigung bereits nach einem Jahr bei nationalen Wahlen mitstimmen. Viele andere Länder erlauben das Wählen auf kommunaler Ebene. Österreich gehört auch diesbezüglich zu den Schlusslichtern. Viele hier lebende Menschen dürfen nicht einmal auf Gemeinde- und Bezirksebene mitbestimmen.
Ein zweites Argument lautet, „Fremde“ hätten keinen Bezug zu Österreich und könnten dem Land bei Wahlen Schaden zufügen. Fakt ist jedoch: Fast die Hälfte der Menschen ohne österreichische Staatsbürgerschaft lebt schon länger als zehn Jahre hier, mehr als ein Drittel sogar länger als 15 Jahre – und immer mehr sind hier geboren. Sie sind keine „Fremden“, sondern integraler Teil des Alltags und der Gesellschaft. Und sie leisten oftmals wesentliche Beiträge zur Wirtschaft und zum Staatswesen. Die Unterstellung, dass sie mehrheitlich Schlechtes für ihre Lebensumgebung (und damit auch für sich selbst) bewirken wollen, ist perfide und lebensfern. Ein weiteres Argument richtet sich dagegen, dass Menschen doppelt wählen könnten, in Österreich und in ihrem Staatsbürgerschaftsland. Diese Möglichkeit würde auf manche zutreffen, so wie schon derzeit bei einem Teil der Doppelstaatsbürger*innen. Auf einen erheblichen Teil würde das jedoch nicht zutreffen, denn viele Länder entziehen Menschen das Wahlrecht, wenn sie nicht dort leben. So kommt es, dass immer mehr hier lebende Menschen noch nie wählen durften, nirgendwo. Oft wird auch das Argument vorgebracht, das Wahlrecht sei etwas natürlich Gewachsenes und Unveränderliches. Die Geschichte lehrt etwas anderes. Noch vor 130 Jahren war Mitbestimmung ausschließlich Wohlhabenden vorbehalten. Später wurde das allgemeine Wahlrecht geschaffen, aber nur für Männer. Es folgte der erfolgreiche Kampf für das Frauenwahlrecht. Seit dem EU-Beitritt darf ein Teil der Nichtstaatsbürger*innen auf kommunaler Ebene wählen. Und vor einigen Jahren wurde das Wahlrecht auf 16- und 17-Jährige erweitert. Veränderung ist also möglich und angesichts der wachsenden Demokratiekluft auch nötig.
Befeuert wird das Demokratieproblem auch durch die extrem hohen Einbürgerungshürden in Österreich. Selbst unter den im Land geborenen Menschen haben mehr als eine Viertelmillion nicht die österreichische Staatsbürgerschaft und damit keine demokratischen Beteiligungsrechte.
Viele Betroffene wollen dazu nicht länger schweigen. Sie wollen nicht mehr stimmlos und politisch unsichtbar sein. Die bis 4. Oktober laufende Pass Egal Wahl von SOS Mitmensch ermöglicht ihnen mehr als nur symbolischen Protest, sie zeigt auch, wie Demokratie gehen könnte und sollte. Ein Weckruf an die Politik.
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