Warum nicht Ethikunterricht?
Eine Wiener Mittelschule trennt Kinder u.a. nach ihrer Religion in Schulklassen, der Vorwurf der „Segregation“ steht plötzlich im Raum. Die Bildungsdirektion verweist auf eine komplexe Stundenplanerstellung. Die Verfügbarkeit von Religionslehrenden sei dabei nur eines von mehreren Kriterien für die Klasseneinteilung. Doch wie wäre ein Ethikunterricht für alle? Das würde Kinder zusammenführen und Schulen organisatorisch entlasten. Ein Beitrag im neuen MO-Magazin für Menschenrechte. Text: Florian Gucher
Eine ausgewogene Zusammensetzung von Klassen, die nach Glaubensbekenntnissen durchmischt
sind, ist laut Bildungsdirektion Wien wünschenswert.
In einem Bericht in der Tageszeitung „Der Standard“ erhob Ende vergangenen Jahres ein Vater den Vorwurf, dass es an einer Schule in Wien zu „Segregation aufgrund von Religion“ komme. Im BRG/WMS Seestadt würden etwa in einer Klasse 14 Kinder muslimischen Glaubens mit fünf oder sechs evangelischen plus ein paar Kindern ohne Religionsbekenntnis zusammengefasst. In anderen Klassen wären die römisch-katholischen Kinder versammelt. Er wandte sich an die Bildungsdirektion. Diese beschied ihm laut Standard-Bericht, dass an der betreffenden Schule auf eine „ausgewogene Zusammensetzung der Klassen geachtet“ werde, die auch unter Berücksichtigung eines schülergerechten Stundenplans erfolge. Nach dem Erscheinen des Artikels meldete sich die Bildungsdirektion noch einmal zur Causa. Der Tenor: Nach Glaubensbekenntnissen durchmischte Klassen wären selbstverständlich wünschenswert, zugleich gäbe es aber eben auch organisatorische Herausforderungen. Im Fall der Seestadt-Schule liege jedenfalls keine Diskriminierung vor. Den Vater, der die Diskussion aufgebracht hatte, dürfte das aber nur bedingt befriedigt haben. Er glaubt, dass so eine Trennung mit den Kindern etwas mache. Ein Gedanke, den man jedenfalls ernst nehmen muss.
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ETHIKUNTERRICHT FÜR ALLE:
SO KÖNNTEN NACH GLAUBENS-
BEKENNTNISSEN EINGETEILTE
KLASSEN VERHINDERT WERDEN.
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Schule bis 18 Uhr
Schulen haben durch die Schulautonomie heute deutlich mehr Freiheiten als früher. Sie können inhaltliche Schwerpunkte setzen und besser auf die Anforderungen ihrer Schüler*innen eingehen. Sie können aber bei strukturellen Problemen auch auf diesen sitzen bleiben. So wie im Fall der Seestadt-Schule, denn Religionslehrer*innen springen zwischen mehreren Schulen, womit deren Verfügbarkeit einen deutlichen Einfluss auf die Erstellung der Stundenpläne hat – und eben auch auf die Klassenzusammensetzung.
Es ist davon auszugehen, dass alle Schulen versuchen, die Kinder und Jugendlichen möglichst ausgewogen auf die Klassen zu verteilen. Solche, die sich bereits aus der Volksschule kennen, will man ungern trennen. Zudem geht es für die Schulen aber auch darum, eine hohe Anzahl an Wochenstunden möglichst kompakt zu organisieren. Kinder, die mit zwölf Jahren bis 18 Uhr in der Schule verbringen – das klingt nicht so optimal. Kritiker*innen bringen ein, dass andernfalls die Kinder, um die es eigentlich geht, die ersten Leidtragenden wären: und zwar einer fehlenden Entrümpelung der Lehrpläne, aber eben auch der mangelnden Verfügbarkeit von Religionslehrenden. So könne man davon ausgehen, dass nicht nur die Seestadt-Schule, sondern auch andere Schulen mit derartigen Problemen zu kämpfen haben.
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BEI DER EINFÜHRUNG EINES
ETHIKUNTERRICHTS HÄTTE
AUFGRUND DES KONKORDATS AUCH
DIE KIRCHE EIN WORT MITZUREDEN.
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So gibt es mehrere Stimmen, die fordern, den Religionsunterricht durch Ethikunterricht zu ersetzen. Das würde nicht nur dem Anliegen von Eltern entsprechen, ihren Kindern die Erfahrung einer Separierung nach religiösen Kriterien zu ersparen. Es würde auch den Schulbetrieb einfacher gestalten. Die Entscheidung darüber liegt allerdings nicht bei den Schulen, sondern kann nur auf politischer Ebene gelöst werden: bei der Bildungsdirektion (das ist der ehemalige Stadtschulrat) und im Bildungsministerium. Aufgrund des Konkordats hätte auch die Kirche ein Wort mitzureden. Eine Regelung in diese Richtung gibt es allerdings bereits: Jugendliche, die sich in der Oberstufe vom Religionsunterricht abmelden, sehen sich (verpflichtend) im Ethikunterricht wieder. Warum also nicht auch in der Unterstufe, könnte man fragen.
Seestadtschule. Die Herausforderung schülergerechter Stundenpläne teilt die Schule wohl mit
vielen anderen. Eine Hürde ist die Verfügbarkeit von Religionslehrer*innen.
Religionsunterricht – noch zeitgemäß?
Hier kommen natürlich auch Werteeinstellungen ins Spiel. Ist der konfessionelle Religionsunterricht überhaupt noch mit dem pluralen Weltbild unserer Gesellschaft vereinbar? Vieles hat sich in den vergangenen 70 Jahren geändert. So stieg der Anteil von Menschen, die sich keiner Religionsgemeinschaft zugehörig fühlen, laut Statistik Austria im Jahr 2021 in Wien auf 34 Prozent. Selbst im traditionsbewussten Kärnten gilt das für mittlerweile 16 Prozent der Bevölkerung. War Österreich 1951 noch zu über 90 Prozent römisch-katholisch, sind es heute nur noch etwas mehr als die Hälfte der Einwohner des Landes. Die Diversität ist im gleichen Zeitraum gestiegen, es gibt mehr Menschen, die der orthodoxen Kirche oder dem Islam zugehörig sind: Deren Anteil stieg von 0,3 Prozent im Jahr 1971 auf rund 8 Prozent. Wer will da noch von einem Religionsunterricht sprechen?
Für Schulen bedeutet das eine organisatorische Mammutaufgabe. Sie müssen Religionsfächer von fünf oder mehr Konfessionen unter einen Hut bringen. Während Interkulturalität großgeschrieben wird, sind bei Schulen gleichsam Notlösungen gefragt. Auch wenn es sich im Fall des BRG/WMSS Seestadt „keinesfalls um gelebte Praxis handelt“, wie die Bildungsdirektion geschrieben hat, ändert das nichts an der Tatsache, dass Schüler*innen dennoch nach Religionen aufgeteilt sind. Ein Gefühl des „Wir“ und der „Anderen“ steht im Raum, vielleicht die Gefahr von Blockdenken. Dabei wäre Inklusion das Stichwort unserer Zeit. Zugleich stellt sich die Frage, was Ethikunterricht tatsächlich leisten kann. Tatsächlich hat sich das Fach der „Ethik“, das unter Aufhängern wie „Philosophie für Kinder“, „Lebensführung“ oder „Wertekunde“ lange erprobt wurde, bislang nie so richtig durchgesetzt.
Was kann dieses Fach in einem gesellschaftlichen Sinn also leisten? Michael Sörös, Leiter der Bildungsdirektion West, betont: „Der Lehrplan zeigt, wie umfassend das Fach Ethik sein kann. Es reicht von Religionstheorie über Geschichte bis hin zur Philosophie.“ Schon seit Anfang der 2000er-Jahre liegt Ethik als Unterrichtsfach am Tisch, seine Einführung hat sich jedoch verzögert. Nach 20 Jahren Testphase habe man sich schließlich entschlossen, Ethikunterricht gesetzlich für die Sekundärstufe 2 ab dem laufenden Schuljahr 2022/2023 als alternativen Pflichtgegenstand einzuführen. Und zwar für alle, Schüler*innen, die keinen konfessionellen Religionsunterricht besuchen, so Sörös. Durchgesetzt hat sich eine sogenannte „Light-Variante“, die Ethik und Religion als Unterrichtsfächer nebeneinanderstellt: „Möglich ist es für Schüler*innen auch, sowohl Religion als auch Ethik zu besuchen und auch in beiden Fächern zu maturieren, sofern es der Stundenplan zulässt“, ergänzt Sörös: Was schön klingt, wird abermals zur organisatorischen Aufgabe für die Schulen. Manche Schulen lösen das so, dass sie Ethik zum Wahlpflichtgegenstand machen. Stellt sich nur noch die Frage, wie das nun in der Sekundarstufe 1 und in der Volksschule ist. Auch hier gibt es noch keine einheitliche Lösung. Budgetäre Gründe, so heißt es, verhindern eine rasche Umsetzung.
Modell: kooperativer Unterricht
Wolfgang Weirer, Religions- und Ethikpädagoge an der Uni Graz, sieht jedoch gute Gründe, den Religionsunterricht nicht komplett über Bord zu werfen. Er sieht ein Modell, wonach das Fach als kooperativer Unterricht zwischen den einzelnen Fächern mit gemeinsamen Lernphasen möglich wäre. Weirer: „Aus Untersuchungen weiß ich, dass Schulleiter*innen religiöse Bildung an Schulen für hochrelevant erachten. Für den Religionsunterricht spricht, dass das Wesen von Religion aus rein neutraler Beobachtungsperspektive schwer begreifbar wird und abstrakt bleibt. Hier fehlt die sogenannte Innenperspektive.“ Es würde zu wenig berücksichtigt, dass etwa islamischer oder orthodoxer Religionsunterricht für die Schüler*innen zu einem wichtigen Identifikationsbildungsprozess werden kann.
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KLASSISCHER RELIGIONSUNTERRICHT
IST AUTHENTISCH,
ABER AUCH SEPARIEREND.
KARSTEN LEHMANN
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„Was heißt es beispielsweise, Muslim oder Muslima in Österreich zu sein? Welche islamischen Zentren und Institutionen gibt es hier?“ Das würde deutlich über das Potential des Ethikunterrichtes hinausreichen, Ethik hingegen sei neutral und sachlich, primär eine Wertevermittlung mit Philosophie und mitunter auch Religionswissenschaft. Doch auch vom Religionsunterricht verlangt der Pädagoge, über die Kompetenzen der eigenen Religion hinauszublicken. Angesichts der vielen Abmeldungen mache es aber auch keinen Sinn, den Religionsunterricht künstlich aufrechtzuerhalten. Immerhin haben sich seit der Einführung des neuen Ethikfaches die Abmeldungen vom Religionsunterricht reduziert.
Religionswissenschaftler K. Lehmann: Schulen
haben Spielraum bei Gestaltung.
Ethikpädagoge W. Weirer: Religionsunterricht
nicht völlig verwerfen.
Der Religionswissenschaftler Karsten Lehmann forscht an der Kirchlichen Pädagogischen Hochschule Wien/ Krems zu „Interreligiösität“. Er sieht Spielraum bei den Schulen: „Individuen haben heute unterschiedliche religiöse Identitäten. Es liegt an den Schulen, wie man mit dieser Vielfalt umgeht. Es gibt eine ganze Reihe von pädagogischen Modellen, die vom klassischen Religionsunterricht bis hin zu Formen reichen, in welchen verschiedene Religionsgruppen zusammenarbeiten und sich Schüler*innen nochmals auf andere Weise kennenlernen. Klassischer Religionsunterricht ist authentisch, aber auch separierend. Die weltanschaulich pluralste Form ist zweifelsohne der Ethikunterricht.“
Man kommt wohl zum Schluss, dass die schon lange umkämpften Fächer Ethik und Religion nicht ohne einander können. Den Religionsunterricht per se abzuschaffen, wäre wohl zu kurz gedacht, ebenso wie Ethik nicht weiter in die Lehrpläne vordringen zu lassen. Hier gilt es wohl auch, auf Differenz von Stadt und Land zu blicken und Spielräume offenzulassen: „Wien hat beispielsweise eine ganz andere Heterogenität als ein Dorf mit 2000 Einwohner*innen, das sollte in dieser Frage mitbedacht werden“, so Michael Sörös von der Bildungsdirektion. Die große Herausforderung wird es wohl sein, und da scheitert paradoxerweise selbst ein Bürokratenstaat wie Österreich, die Vielfalt an Positionen ineinander zu flechten und in einen gegenseitigen gemeinsamen Diskurs zu bringen. Und eine Schulleitung würde wohl noch anfügen: Bitte auf die Kinder nicht vergessen, sie sollten nicht die Leidtragenden dieser Diskussion sein.
Florian Gucher, geboren 1995 in Villach, hat Germanistik und Visuelle Kultur studiert. Er arbeitet als freischaffender Redakteur im Kulturbereich.
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